Phantastischer Montag: Kind des Windes

Sie fand sie nicht. Jeden Tag flog Elyf aus. Sie durchstreifte die Stadt, die mit jedem Flügelschlag zu wachsen schien. Natürlich konnte Andra längst die Stadt, das Land verlassen haben. Drachenflügel trugen sie ganz sicher schneller und weiter fort, als Krähenflügel Elyf trugen. Trotzdem gab sie nicht auf. Doch immer wieder kehrte sie erfolglos zurück. Dieses Mal erst spät in der Nacht.

Marthe stand hinter dem Tresen der Krähenbar und polierte Gläser, während sie darauf wartete, dass auch die letzten Krähenschwestern den Weg nach oben in ihre Betten fanden. Elyf setzte sich auf einen Barhocker und stützte die Ellbogen auf den Tresen, ließ den Kopf in die Hände sinken.

Wieder nicht gefunden?“ Marthe hielt eine Whiskyflasche hoch.

Elyf schüttelte den Kopf. Zu beidem. Marthe verstand. Elyf seufzte. „Vielleicht mache ich mir etwas vor. Ich meine, sie könnte längst sonst wo sein.“

Was, wenn du sie findest und sie nicht gefunden werden will?“, gab Marthe zurück und schlug sich das Polierhandtuch über eine Schulter.

Dann soll sie mir das ins Gesicht sagen.“ Elyf starrte ihr eigenes in dem Spiegel hinter der Bar an. Augenringe verrieten ihren Schlafmangel. Sie mochte ihr Bett nicht mehr, seit Andra daraus verschwunden war.

Sicher?“, hakte Marthe nach.

Elyf blinzelte. Was hatte sie gesagt? Ah, richtig. „Ja.“

Marthe kam um den Tresen herum und setzte sich neben sie. „Du musst dir wirklich ganz, ganz sicher sein.“ Sie nahm Elyfs Hände in ihre und blickte ihr ernst in die Augen.

Zuerst wollte Elyf aufbegehren. Natürlich war sie sicher! Doch dann nahm sie sich doch die Zeit, fünf Mal durchzuatmen. Sie entspannte ihre Schultern und ihre Hände in Marthes Händen. „Ich bin mir sicher.“

Also gut.“ Marthe nickte. „Was ich dir anvertrauen will, ist altes Wissen. Es ist wahr – aber es ist auch möglich, dass die Windgeister nicht mehr existieren. Sie sind alt, älter als wir.“ Marthes Worte weckten Elyfs Geist. Sie setzte sich aufrechter hin und lauschte.

Heute werden sie Harpyien genannt“, fuhr Marthe fort, „und ihr Ruf ist noch übler als der von Krähen. Doch früher, vor Zeiten älter als Legenden, wussten die Menschen um ihr wahres Wesen. Sie sind die Stimmen der Winde und ihre Flügel. Sanft, aber auch launisch und gefährlich. Sie werden auch die Windschwestern genannt, weil sie die Gesichter von Frauen haben, Haare, mit denen der Wind spielt, in denen er sich verfängt, und die Körper großer Vögel mit silbergrauen Federn, von denen jeder Regen abperlt, weite Flügel, die sie überallhin tragen, sturmschnell wie sommerträge. Sie sind unmöglich einzufangen und lachen dich aus, wenn du ihnen etwas befehlen willst. Aber du kannst sie um etwas bitten – und falls ihnen danach ist, helfen sie dir.“

Elyf holte schon Luft für ihre Frage, doch Marthe drückte ihre Hände und schüttelte den Kopf. „Du musst noch mehr wissen. Die Windschwestern lassen sich nicht rufen. Du kannst dich ihnen nur anbieten. Entweder kommen sie dann oder nicht. Du hast nur einen Versuch und nur eine Bitte. Wähle deine Worte also klug. Solltest du einen zweiten Versuch machen, eine zweite Bitte aussprechen, werden sie dich für den Rest deines Lebens Nacht für Nacht heimsuchen und dir Albträume zuflüstern. Du wirst darüber verrückt, aber egal, wohin du fliehst, sie finden dich.“ Marthe hielt ihre Hände so fest, dass es schmerzte. „Ein Versuch. Eine Bitte. In deinem gesamten Leben. Verstanden?“

Dieses Mal hatte Elyf es nicht eilig mit Worten. Sie ließ den Schmerz von Marthes Griff in sich einsinken. Er verblasste im Vergleich mit dem Schmerz um Andras Verlust. Was, wenn Andra nicht freiwillig gegangen war? Was, wenn sie ihre Hilfe brauchte? Was, wenn die Verzweiflung der Drachengestaltwandlerin so groß war wie ihre eigene? Größer gar? Wie könnte sie da die Suche aufgeben? Marthes Frage schlich sich wieder in ihre Gedanken: Was, wenn sie nicht gefunden werden will?

Stell dir vor, die Windschwestern finden sie, aber führen dich nicht zu ihr, weil Andra dich nicht sehen will. Würdest du auch das wissen wollen? Elyf hatte nicht sofort eine Antwort für sich.

Schlaf drüber“, riet Marthe ihr in das Schweigen hinein.

Hast du sie mal was gefragt?“, gab Elyf zurück.

Ja.“ Marthe schnappte sich ein Glas, das schon glänzte, und polierte es erneut. Elyf wartete ab, doch als die Barfrau das Glas wegstellte und sich wortlos dem nächsten widmete, akzeptierte sie, dass sie keine weitere Antwort bekommen würde. Hinter ihr schabten Stuhlbeine über den Holzboden, mehrere Stimmen wünschten eine gute Nacht, und dann war sie die Letzte in der Bar. Sie rieb sich eine Augenbraue. Räusperte sich. „Wie mache ich das mit dem Anbieten?“

Schlaf drüber“, wiederholte Marthe. Und das war genauso endgültig wie ihre vorherige Antwort. Also schlich Elyf sich nach oben in ihr Zimmer. Geh einfach ins Bett, sagte sie sich. Du hast vorher doch auch allein drin geschlafen! Aber sie blieb am Fußende stehen, betrachtete die aufgeschüttelte Bettdecke, die glatt gestrichenen Kissen. Heute Morgen hatte sie gehofft, so würde das Bett am Abend einladender aussehen. Tat es aber nicht.

Mach schon. Was ist so schwer daran, ins Bett zu gehen? Sie zählte sich alles auf, was sie am Schlafen mochte (das ausgeruhte Gefühl am Morgen zum Beispiel), aber ihre Füße trugen sie zum Fenster, und sie hockte sich auf das breite Fensterbrett. Elyf legte eine Hand an die Scheibe und tappte mit dem Daumen dagegen. Im Grunde war die Formulierung ihrer Bitte ganz einfach.

Na, dann kannst du ja jetzt schlafen gehen.

Ach, halt die Klappe.

Draußen tappte der erste Regen seit langem gegen die Fensterscheibe. Und ohne, dass sie wusste, wie die Zeit vergangen war, hellte sich die Nacht zum Morgen auf, als der Regen verschwand. Elyf schlurfte zum Bett und kroch unter die Decke. Sie zog sich gar nicht erst aus. Nur kurz die Augen ausruhen.

Bis sie loskam, dämmerte der Abend bereits wieder herauf. Sie sollte sich einen hohen Ort suchen. Nun, das war einfach. Elyf schlug mit den Flügeln und ließ sich von einer neuen Strömung weiter nach oben tragen. Die Landung auf dem Flügel der Goldelse war leicht, die Erinnerung an das erste Treffen mit Andra alles andere als das. Andra hatte hier oben gesessen, in Menschengestalt, und Elyf hatte befürchtet, eine Selbstmörderin zu sehen. Wie falsch sie gelegen hatte!

Der Gedanke entlockte Elyf nun doch ein leises, krächzendes Lachen. Sie schwankte ein wenig und streckte schnell die Flügel aus, brachte sich wieder ins Gleichgewicht. Sie plusterte sich etwas auf, um dem kalten Ostwind zu trotzen. Sie rief sich Marthes Anweisungen ins Gedächtnis:

Punkt eins – du musst ein Windwesen sein, sonst beachten sie dich gar nicht, also bleib in deiner Krähengestalt.

Punkt zwei – formuliere deine Bitte, so präzise du kannst, und rufe sie mit der Windrichtung, nicht gegen sie.

Punkt drei – warte. Egal, wie lange es dauert, rühr dich nicht vom Fleck, verwandle dich nicht, und lass dir ja nicht einfallen, deine Bitte zu wiederholen oder von deinem gewählten Ort zu verschwinden, sonst bekommst du keine Antwort.

Elyf legte die Flügel wieder an. Sie hatte lange genug über alles nachgedacht. Sie war bereit. Sie drehte sich vorsichtig herum, bis ihr der Wind von hinten unter die Federn fuhr. Dann begann sie mit dem Vers, den Marthe ihr eingeprägt hatte:

Wind, Wind, Wind,

Auch ich bin dein Kind,

Drum hör mir zu,

Dann lass ich dich für immer in Ruh.“

Darauf durfte sie keine Reaktion erwarten, das wusste sie. Trotzdem lauschte Elyf kurz. Frischte der Wind nicht ein wenig auf? Lag darin ein leiser Gesang? Nicht zögern, hatte Marthe gesagt. Also sprach Elyf weiter: „Die Drachengestaltwandlerin Andra, sie ist auch ein Kind des Windes, und sie hat mit uns Krähenschwestern gelebt. Wir waren uns nah und dann ist sie verschwunden. Ich bitte euch, sagt mir, wo ich sie finden kann.“

Elyf schloss ihren Schnabel, presste ihn fest zusammen, damit ihr kein unvorsichtiges Wort entkam. Sie krallte sich um die schmale Flügelkante der Goldelse und wartete.

Der Wind pfiff und heulte.

Elyf wartete.

Der Wind strich mit Eisfingern unter ihren Federn entlang.

Elyf rührte sich nicht und wartete.

Der Wind brachte mehr Reden. Der Wind brachte Wärme. Der Wind brachte Sturm und riss Blätter von den Bäumen, schlug damit auf sie ein.

Elyf rührte sich nicht und wartete.

Es wurde Tag und wieder Nacht und so oft hell und wieder dunkel, dass Elyf nicht mehr zählte. Elyf rührte sich nicht und wartete. Und der Wind begann zu singen. Die Stimmen strichen über ihre Federn, sie hielten sie warm, sie hielten sie fest. Und sie brachten ihr eine Antwort.

Die du suchst, birgt ein Geheimnis“, raunten sie, „verbirgt es auch vor uns.“ Die Stimmen drehten und wanden sich im Wind, wirbelten um Elyf herum, schmiegten sich an ihre Federn, drängten zu ihren Ohren. „Das solltest du wissen, wenn du zu ihr gehst. Sie war weit, weit fort“, wisperten sie. „Unbekannte Gerüche haften an ihren Schuppen und haften in ihrem Haar.“ Der Wind heulte auf und die Stimmen heulten mit ihm: „Nimm dich in Acht! Nimm dich in Acht!“ Als der Wind sich legte, flüsterten sie ihr zu: „Du findest sie in deiner Stadt, wo sie prächtige Gefieder bewundert, von Wasser umgeben, mit Turm und Schloss.“ Die Stimmen schraubten sich in die Höhe, glitten mit ihren letzten Worten davon. „Du bist ein Kind vom Wind, wir hörten dir zu, nun lass uns für immer in Ruh.“

Und dann war der Wind nur noch der Wind.

… Fortsetzung folgt im nächsten Monat! 🙂
Dieses Mal habe ich gleich zwei Themen vom phantastischen Montag in einem verarbeitet, weil ich die Story zu den Harpiyen nicht rechtzeitig fertig bekommen hatte … so sind sie jetzt mit der Inspiration für diesen Monat zusammengekommen: „I hate being told what to do! Especially by myself!“ (Lynn Flewelling). Die Storys der Kolleg*innen verlinke ich euch noch.