Stadtmagie – Teil 5

Spuren

Jetzt könnte man denken: Klarer Fall, sie sind gelandet, die Außerirdischen sind längst unter uns! Mitten zwischen Volleyballnetz und Spielplatz, gleich neben dem eingezäunten Gelände, wo die jungen Fußballteams selbst im Winter noch in kurzen Hosen trainieren. Wieso sonst sollte da so eine silbrig glänzende Halbkugel stehen? Alles andere auf dem Gelände ist eindeutig als Spielgerät zu erkennen, nur diese silberne Halbkugel macht die Ausnahme. Man kann nicht hineinschauen, das hab ich schon ausprobiert. Ganz vorsichtig und hoffentlich unauffällig. Andere hatten da weniger Scheu, seit einiger Zeit ziert ein Graffiti die eine Seite, ein Schriftzug, der mir nichts sagt. Ich nehme an, diejenigen, die unter der Halbkugel wohnen, akzeptieren ihn, trägt er doch zur besseren Tarnung bei.

Das silbrige Halbrund ist ganz eindeutig ein Einwegspiegel. Von drinnen können sie hinausschauen, aber wir nicht von draußen hinein. Und doch hocken da drinnen keine Außerirdischen und studieren uns. Was wollten die auch mit der Beobachtung spielender Kinder und Erwachsener, die – sobald es wärmer wird – die Tischtennisplatten belagern?

Nein, ich bin überzeugt, es ist die Aussichtsplattform der kleinen Leute: Gnome, Feen und andere Winzlinge, die sich, seit wir uns weigern noch an ihre Existenz zu glauben, in den Untergrund zurückgezogen haben. Unter den Parks und Straßen der Stadt haben sie ein weit verzweigtes Tunnelnetz angelegt und überall, wo sie es unauffällig einrichten konnten, haben sie ihre magischen Spiegel aufstellen lassen. Wo immer etwas neu gebaut oder umgestaltet wird, verstehen sie es, sich heimlich in die Baupläne einzubringen. In der Verwaltung stellt niemand etwas infrage, das auf einem Plan eingezeichnet ist. Und so gibt es sie überall in der Stadt, diese mal so, mal so getarnten magischen Spiegel.

Denn von Zeit zu Zeit haben die kleinen Leute das Bedürfnis, ihre Tunnelwelt zu verlassen, einen Spaziergang im Mondschein zu machen oder den Sternen ein leises Lied zu singen. Aber um uns nicht zu erschrecken, warten sie damit, bis ein Ort ganz und gar verlassen ist, bevor sie an die Oberfläche kommen. Dann werden rauschende Feste unterm Sternenhimmel gefeiert, Sanddünen erklommen und hinabgerutscht – sie klettern auf Baumwurzeln und zitieren Poesie und in Winternächten tanzen sie mit den Schneeflocken.

Lange vor dem ersten Morgenlicht sind sie alle wieder verschwunden. Nur wer genau hinsieht, erkennt noch ihre Spuren im Schnee oder im Sand oder in den bunten Fäden, die an einem grauen Zaun flattern.