(2023 widmen wir uns verschiedensten Genres der Phantastik und beginnen im Januar mit einem Klassiker: Märchen.)
Es war einmal, in Zeiten, die längst nur noch Geschichten sind, eine Seefahrerin, die Kapitänin der Sheldrake. Wenn du magst, mach es dir gemütlich und ich erzähle dir eine Geschichte von ihr:
Kea lachte, als die Gischt über den Bug spritzte, ihr mitten ins Gesicht. Komm her, Nirne, sieh dir das an! Wie immer, wenn ihre Tante, die Kapitänin der Sheldrake, sie rief, flitzte Nirne über das Deck. Auch jetzt, während es schlingerte und schaukelte und unter dem Ansturm der Wellen bebte und ächzte. Kea schlang die Arme um sie, drückte sie fest an sich, sodass Nirne auf das Meer schauen konnte. Siehst du das?
Natürlich sah Nirne das tosende, schäumende Meer, Wellen, die sich zu Bergen erhoben, bis sie mit dem dunklen Horizont verschmolzen. Die Drachen haben ihren Spaß! Kea schrie gegen das Brüllen der Wellen an. Sie tanzen am Meeresgrund, und das Meer tanzt mit!
Und als das Meer irgendwann in der Nacht genug getanzt hatte, als hoch über ihnen die Sterne glänzten, der Wind nur noch flüsterte, da sagte Kea: Wir sehen das Meer unter uns, aber die Drachen blicken von noch weiter unten hinauf, für sie ist diese Weite der Himmel.
Kea hatte ihr von den Drachen erzählt, seit Nirne, kaum dass sie laufen konnte, zu ihr auf die Sheldrake gekommen war. Vor langen, langen Zeiten, so erzählte es Kea, haben die Menschen sich die Erde mit den Drachen geteilt – oder eher: Die Drachen haben sich die Erde mit den Menschen geteilt. Doch die Menschen wurden neidisch auf diese mühelos lebenden, fliegenden Wesen. Und so verbreiteten sie Lügen über sie, jagten sie. Töteten sie.
Die Drachen hätten sich wehren können. Aber sie wollten nicht töten. Und so zogen sie sich zurück – weit zurück, bis auf den Meeresgrund. Und manchmal, wenn sie sich an ihr Leben hier oben bei uns erinnern oder ihren Nachgeborenen von längst vergangenen Zeiten erzählen, dann vertreiben sie die Traurigkeit mit einem wildem Fest. Sie tanzen und das Meer tanzt mit.
So erzählte es Kea. Und Nirne hatte keinen Grund, an den Worten ihrer Tante und Kapitänin zu zweifeln. Wer weiß, dachte sie und starrte in den Nachthimmel, vielleicht ist das dort oben auch nur für uns ein Himmel und für andere ihre See. Vielleicht sind Wolken die Schiffe ganz anderer Wesen, und was wir Sterne nennen, sind die Lichter noch fernerer Schiffe.
So wuchs Nirne auf der Sheldrake heran, lauschte den Geschichten ihrer Tante, dem Krächzen des Raben Braxas oben im Ausguck, dem Klappern von Ein-Ohr-Jettes Kochtöpfen in der Kombüse, den Liedern von Nils, wenn er einen seiner drei Röcke flickte, dem Knarren der Masten, dem Fluchen von Marthe, der Steuerfrau, wenn die Drachen zu wild tanzten. Die schwarze Katze Flink rollte sich abends in der Koje neben ihr zusammen und schnurrte sie in den Schlaf.
Sie segelten über die Meere, plünderten reiche Schiffe, behielten, was sie brauchten, verschenkten, was andere nötiger hatten und sich nicht leisten konnten. Ausgleichende Gerechtigkeit, nannte Kea das. Wir erfüllen Wünsche, wie der Weihnachtsmann, nur eben dringendere und das ganze Jahr über.
Vor langen, langen Zeiten, erzählte ihr Kea in stillen Nächten, haben Menschen und Drachen einander ein Geschenk gemacht. Die Drachen haben die Toten der Menschen so bestattet wie die ihren. Sie betteten die Gestorbenen auf einen Felsen, dann versammelten sie sich in einem gebührenden Abstand um sie herum. Alle Drachen richteten ihre Flammen auf die Gestorbenen, und in dieser Hitze verbrannten sie zu feinster Asche. Der Wind sammelte sie auf, trug sie weit über Land und Meer. Die Drachen aber atmeten den Rauch der Seelen ein, in dem alle ihre Geschichten bewahrt sind. Und deswegen bestatten wir unsere Toten auf See, damit sie und ihre Geschichten zu den Drachen finden.
Aber wie können Drachen unter Wasser Feuer spucken? Das hatte Nirne gefragt, als sie noch so klein war, dass sie Kea gerade mal bis zum Bauchnabel reichte. Die tätschelte ihr den Kopf. Keine Sorge, Krabbe, das sind Drachen. Die können das.
Und so erhielten alle auf der Sheldrake nach ihrem Tod ein Seebegräbnis. Oder Drachenbegräbnis, wie Kea es nannte. Vielleicht glaubte nur sie an die Drachen, aber niemand er Besatzung widersprach je ihren Geschichten (sie waren ja nicht lebensmüde).
Ein-Ohr-Jette war in Nirnes Leben die erste, die starb. Sie fiel eines Tages einfach in der Kombüse um und stand nicht mehr auf. Hinter ihrem einen Ohr klemmte noch der Stift, mit dem sie sich überall, mit dem sie sich bei jedem Landgang neue Rezepte notiert hatte. Nirne erbte den Stift – und die Arbeit als Köchin.
Bei Ein-Ohr-Jettes Bestattung stand sie neben Kea an Deck, der sie inzwischen bis zu den breiten Schultern reichte. Kea hob eine Flasche Whisky. Jette hat mich auf die Sheldrake geholt, da war ich jünger als die Krabbe hier. Sie stupste Nirne an. Ich war klein und flink und furchtlos, also steckten sie mich meistens in den Ausguck. Jette gehörte damals zu den ersten, die sich auf ein geentertes Schiff schwangen. Sie hat jeden Dienst auf der Sheldrake mal gemacht – nur Kapitänin wollte sie nie werden. Aus dem Stoff bin ich nicht, hat sie gesagt. Aber in ihrem Leben hat sie viele Geschichten für die Drachen angesammelt. Kea hob die Flasche. Auf Jette!
Sie goss einen ordentlichen Schluck Whisky auf die Brust der Toten, die auf einer Planke aufgebahrt an Deck lag. Auf Jette!, riefen alle von der Besatzung.
Auf die Sheldrake!, erwiderte Kea. Ein Schluck Whisky landete auf dem Deck, während sie alle riefen: Auf die Sheldrake!
Kea goss den dritten und bislang größten Schluck ins Meer. Auf die See! Und auf die Drachen! Mögen sie unsere Jette finden und ihre Geschichten bewahren.
Sie wiederholten auch diese Worte, manche brüllten, manche weinten (auch Nirne), manche flüsterten und hofften – und mit dem letzten Wort hoben sie Jette auf der Planke an, hievten sie über die Reling und ließen sie ins Wasser gleiten. Die Wellen klatschten über ihr zusammen – und dann war sie fort. (Später lernte Nirne, dass diejenigen, die den Verstorbenen am nächsten standen, ihre Taschen mit Steinen füllten, damit die Toten hinabsanken.)
Braxas, der Rabe, krächzte laut auf der Spitze des höchsten Mastes, und Nirne erinnerte sich, wie er auf Ein-Ohr-Jettes Schulter gehockt hatte (auf der Seite mit Ohr), scheinbar tief ins Gespräch mit ihr versunken. Die Besatzung leerte den Rest der Whiskyflasche (und so manche folgte), erzählte Geschichten von Ein-Ohr-Jette (manche wahr, manche nicht so ganz), und sogar Braxas nippte am Whisky. Nirne wusste am nächsten Morgen nicht, ob es wirklich geschehen war oder nur eine Alkoholerinnerung, aber sie hatte sich lange mit Braxas unterhalten.
Sie segelten weiter über die Weltmeere, plünderten und verschenkten, und Nirne wuchs und wurde älter. Neben Jettes Stift hatte sie auch Braxas Freundschaft geerbt, und er lehrte sie seine Sprache. Er war der Beste im Ausguck und krächzte Nirne seine Beobachtungen zu, während sie von der Köchin zur einfachen Matrosin und schließlich zur Steuerfrau wurde.
Noch immer war Kea die Kapitänin der Sheldrake, aber auch sie wurde älter und hatte viele Drachenbegräbnisse geleitet. Und manchmal, wenn sie nachts mit Nirne auf der Brücke stand, sie gemeinsam in die Sterne und über das dunkle Meer blickten, dann sagte sie: Nicht mehr lange jetzt bis zu meinem Drachenbegräbnis. Versprich mir dass du die Tradition wahrst und die Geschichten nicht vergisst.
Nirne versprach es. Und als Keas Zeit kam – viele Jahre nach diesen Nächten – da hielt sie ihr Wort.
Auf Kea!
Ein Schluck Whisky auf ihre Brust.
Auf die Sheldrake!
Ein Schluck Whisky auf das Deck.
Und schließlich die schwersten Sätze. Auf die See! Und auf die Drachen! Mögen sie unsere Kea, unsere Kapitänin, finden und ihre Geschichten bewahren.
Die Besatzung wiederholte ihre Worte, manche brüllten, manche weinten (nein, das taten sie alle), manche flüsterten, und sie alle hofften, dass Kea zu den Drachen fand und das Begräbnis bekam, von dem sie immer erzählt hatte.
Und sie leerten den Whisky und noch so manch weitere Flasche, und sie erzählten sich Geschichten von Kea.
Tief, tief unten im Meer, dort wo nur ganz besondere Augen sehen können, versammelten sich die Drachen in einem weiten Kreis um das Geschenk aus dem Himmel. Sie schlugen mit den Flügeln, bis sie alles Wasser aus ihrem Kreis verdrängten. Alle zugleich richteten sie ihre Flammen auf das Himmelsgeschenk, bis es zu feinster Asche verbrannte, die das Wasser mit sich forttrug.
Doch zuvor atmeten die Drachen den Rauch der Seele ein.
Willkommen, Kapitänin Kea, willkommen bei den Drachen. Wir danken dir für deine Geschichten und werden sie bewahren.
Weitere, phantastische Januar-Geschichten zum Genre Märchen findet ihr bei: Carola Wolff Herzlos und bei C. A. Raaven Siehste – viel Vergnüngen beim Lesen! Das schöne Drachenbild hat Caro vom Otherland (Phantastik-Buchladen in Berlin) mit Kugelschreiber gezeichnet, es kam als Postkarte mit einer Buchbestellung bei mir an und die Karte hängt seither an der Wand neben meinem Schreibtisch.