Die letzte Nacht vor unserem Aufbruch schliefen wir auf unseren Gräbern. Wir alle hatten Lurin mit den Grabsteinen geholfen. Noch heute werden sie an den Kopfseiten unserer leeren Gräber stehen, auf jedem Stein ein Name und ein Datum. Ein Ort. Wo wir geboren wurden. Von wo wir aufbrachen. Das Datum unserer Geburt.
Noch einmal hatten wir Lichter auf die Gräber der Gestorbenen gestellt. Sie leuchteten heller als die Sterne. Sie brannten still, denn in jener Nacht schwieg sogar der Wind. Wir lauschten, hofften auf ein letztes Wispern der Toten, die wir verlassen mussten. Als wir die Stille nicht länger aushielten, flüsterten wir miteinander, erzählten die alten Geschichten. Von dem Meerbaum, den Nary vor zweihundertfünfzig Jahren in der Mitte des Ortes, der damals gerade aus fünf Hütten bestand, gepflanzt hatte und in dem wir alle unsere ersten Klettererfahrungen gemacht hatten. Von dessen Krone aus der Blick in eine Richtung bis zu den Bergen reichte und in eine andere bis zum fernen Meer. Schlossen wir die Augen, klang der Wind in den Blättern wie das Rauschen von Wellen. Das hatten uns die Älteren erzählt, die schon einmal dort gewesen waren. Wir leckten an den Blättern und schmeckten das Salz des Meeres.
Wir erzählten uns von dem Jahr, in dem wir alle unsere Häuser blau strichen, weil das die einzige verfügbare Farbe war. Als spazierten wir durch den Himmel, sagten die ganz Alten in jenem Jahr. Als lebten wir im Meer, sagten die etwas Jüngeren, während Sonne und Wetter die Farbe vom ewig gleichen Blau der Hauswände je nach Standort in Abstufungen ausbleichte, verdunkelte, abblättern ließ.
Von den langen Tagen, in denen alles im Ort nach Feuerflachs roch, weil wir ernteten. Sogar das Wasser, mit dem wir uns spät am Abend wuschen, duftete danach. Das Rascheln der geschnittenen Halme, wenn sie zu Boden fielen, geleitete uns in jenen Nächten in unsere Träume, ihr erdig-rauer Geruch umhüllte unseren Schlaf.
Der Geruch von Asche und Staub begleitete uns lang, als wir am frühen Morgen aufbrachen. Die Flammen der Kerzen auf den Gräbern waren bleich, nur noch als Flackern zu sehen im früh-harschen Licht. Wir trugen kaum etwas mit uns. Ein paar Samen von Feuerflachs, die wir vor den Flammen gerettet hatten. Wir hüllten uns in unsere Erzählungen, dort wo unsere Kleider uns nicht mehr wärmten.
Rani, Nurin, Flux, Linnis und Yaella kannten nur die alten Erzählungen, als sie zum ersten Mal in den Ort kamen. Die Zerstörung und das Morden waren längst weitergezogen. Sie gingen an dem Friedhof entlang, der sich vor den Ruinen des Ortes ausbreitete. Die Gräber besuchen wir später, sagten sie einander. Der Wind strich durch verlassene Räume, die nackt unter der Sonne lagen. Doch sie hielten die Blicke auf die blauen Ziegel gerichtet, die aus einigen Schutthaufen hervorblitzten. Schau, sagten sie, die müssen aus den Jahren stammen, als sie im Himmel wohnten und durchs Meer spazierten.
Sie suchten sich einen Pfad durch verloren gegangene Wege, durch Asche und Schutt und die Ranken der Pflanzen, die sich dazwischen hervorschoben, dem Grau weitere Farbtupfer liehen. Durch die Lücken zwischen den Ruinen sahen sie wild wuchernden Feuerflachs, wo früher die Felder gewesen sein mussten. Die tiefsten Wurzeln hatten überlebt und jetzt stand der leuchtend rot-orange Flachs höher als die Reste der Hauswände. Es stimmt, sagten sie einander, hier sind seine Farben kräftiger. Und sie erahnten schon die Gerüche der Ernte, die hier auch kräftiger sein würden, sehnten sich schon jetzt nach den mit frischem Feuerflachs gestopften Matratzen, nach dem erdig-rauen Geruch, der sie in ihren Schlaf geleiten und ihre Träume umhüllen würde.
Sie fanden den Stumpf des Meerbaums, der den Jüngsten unter ihnen bis zu Schultern und den Älteren bis zu den Hüften reichte. Sie legten ihre Hände auf die von Flammen zerfressene Rinde. Sie strichen über die zarten Blätter der Triebe, die sich aus dem Stumpf emporstreckten. Als sie die Augen schlossen, meinten sie das Rauschen von Wellen zu hören. Vielleicht haben die Alten recht gehabt, sagten sie einander, vielleicht reichen seine Wurzeln bis zum Meer. Ihre Fingerspitzen schmeckten ganz leicht nach Salz.
Sie sammelten die blauen Ziegel auf und trugen sie zum Friedhof. In das Blau ritzten sie all die Namen der Orte, in die sie damals gegangen waren, sowie die Namen der Orte, aus denen sie heute kamen, und sie betteten die Steine in die Erde neben dem Tor. Die Grabsteine, auf denen die Namen der Verschwundenen standen, ließen sie unberührt. Ihre Gräber blieben leer. Nur ihre Erzählungen kehrten zurück.
(Im April lassen wir uns von dem Song „Old Churchyard“ von Wailin‘ Jennys inspirieren. Die anderen Geschichten zum phantastischen Montag im April könnt ihr bei Carola Wolff First Date, C. A. Raaven Bevor ich schlafen kann und Alexa Pukall Am Kirchhof lesen.)