Phantastischer Montag: Krähenschwestern

Sie waren seltener geworden diese Nächte, in denen sie im Bett hockte, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen, und ganz leise atmete, in die Dunkelheit starrte, auf jedes Geräusch lauschte. Und obwohl sie in diesen selten gewordenen Nächten wusste, dass sie hier sicher war, dass hier kein Geräusch eine Gefahr bedeutete, so hockte Elyf in jenen Nächten doch starr im Bett, bewegungsunfähig, bis endlich der Morgen die Nacht vertrieb, sie einen Finger heben konnte, einen zweiten, eine ganze Hand, die andere, sich schließlich ausstreckte und die Augen im heller werdenden Morgen schloss, einschlief.

Doch während es noch Nacht war, schien der Morgen unerreichbar. Auch dieses Mal. Sie presste die Arme um die Knie und starrte in die Dunkelheit. Die war so absolut, dass sie Schatten darin umherhuschen sah, undefinierbare Gestalten. Noch hielten sie Abstand. Doch die Stimmen in Elyfs Kopf waren ganz nah.

Halte still, wisperten sie.

Wenn du ganz still hältst, wenn du nicht einmal zitterst, wenn dein Atem deine Brust weder hebt noch senkt, wenn du nicht blinzelst, wenn du ganz, ganz, wirklich ganz still hältst, dann wird auch die Nacht stillhalten. Nichts wird geschehen, wenn du nur stillhältst.

Und Elyf hielt still. Kein unerwartetes Knacken ließ sie zusammenzucken, keine Stimme auf dem Flur herumfahren. Der Wind rüttelte am Fensterrahmen, strich ihr mit kalten Fingern über den Nacken. Aber es ist nur der Wind, nur der Wind, weil das Fenster nicht dicht ist, redete Elyf sich zu und rührte sich nicht. Der Wind wirbelte die Schattengestalten durcheinander. Elyf wagte nicht, sich noch enger zusammenzukauern, wagte nicht wegzuschauen.

Sie hielt still und mit ihr erstarrte die Nacht. Sie schloss sich eng um Elyf, die Hand eines Riesen, der seine Finger um sie schloss, bis sie sich gar nicht mehr rühren konnte, selbst wenn sie es gewagt hätte. Es waren kalte, schwere Finger.

Neue Stimmen kamen hinzu. Zischend. Wutbebend. Gewaltversprechend. Gedrängt. Gepresst. Hässlich. Kaum noch möglich, ein Zittern zu unterdrücken.

Meine Tochter wird nie zu denen gehören!

Leise, du weckst sie noch.

Ist die Tür abgeschlossen?

Das Rütteln an der Türklinke ließ die gesamte Tür ihres Kinderzimmers beben. Sie schlug gegen den Rahmen, gleich würde es krachen, die Tür zerbersten — still, halt still — Elyf kämpfte gegen den Schrei in ihrer Kehle, kämpfte gegen das Zittern, kämpfte gegen das Verlangen sich umzudrehen, sich zu vergewissern, dass die Tür hielt, dass dies heute und hier eine andere Tür war. Eine Tür, die weder krachte noch barst. Sie hielt still.

Wenn sie nur stillhielt, würde es vorbeigehen. Die Nacht würde irgendwann vorbeigehen. Auch diese. Die Schattengestalten umkreisten sie. Streiften sie. Stillhalten. Sie musste nur stillhalten. Auch wenn die Gestalten aus Dunkelheit ihr über die Haare strichen, über die Arme, über die Schultern, den Rücken — mit Schattenfingern, die wie Feuer brannten.

Irgendwann war es hell geworden. Elyf hatte sich zitternd ausgestreckt, erleichtert, weil sie jetzt schlafen durfte, weil sie die Nacht lang durchgehalten hatte. Auch im Schlaf zuckten ihre Arme und Beine, ihre Finger, sogar ihre Haarspitzen.

 

Später, Elyf wusste nicht, wann sie aufgewacht war, stolperte sie die Treppen hinunter von ihrem Zimmer in die Crow-Bar, in diesen Raum voller freundlicher Gesichter, die zu viel schienen nach dieser Nacht. Elyf eilte durch die Bar, bevor irgendwer sie ansprechen konnte, setzte sich an den Tresen.

Yra, die heute dahinter Dienst tat, blickte sie nur an, sagte nichts, aber schob ihr einen Becher Kaffee zu. Elyf hielt das Gesicht in den tröstenden Dampf, der daraus aufstieg. Sie atmete tief ein und wieder aus.

Eine dieser Nächte, was?“, fragte Yra ruhig.

Elyf fuhr auf. „Woher weißt du …?“

Yra sah sie nicht an, polierte weiter ein Glas mit einem nicht mehr ganz sauberen Handtuch, hielt es gegen das Licht einer Kerzenflamme, runzelte die Stirn und polierte eine Stelle nach. „Wenn eine mittags mit diesem Blick zum Frühstücken kommt …“ Sie zuckte mit den Schultern. Ihr Ton blieb genauso ruhig wie ihre Hände, als sie das Glas zurück ins Regal stellte und nach dem nächsten griff. „Jede hier hat ihre Geschichte.“ Sie deutete mit dem Kinn in den Raum voller Krähenschwestern. „Und wir alle kennen diese Nächte.“

Wird es besser?“, fragte Elyf, ohne das Gesicht aus dem Kaffeedampf zu heben. „Gehen sie irgendwann ganz weg?“

Vielleicht.“ Yra warf das Handtuch zielsicher in einen Eimer und nahm sich ein frisches. „Ich kann die Angst in solchen Nächten inzwischen vertreiben, wenn es mir gelingt, mich zu wandeln. Hat allerdings eine Weile gedauert, bis ich das konnte.“ Sie rieb weiter an dem längst funkelnden Glas herum. „Wenn ich mir lange genug zurede, mir immer wieder sage, dass ich in der sicheren Gegenwart bin, dann kann ich irgendwann die Finger aus dieser Starre lösen, kann mein Tattoo berühren, mich wandeln.“ Yra stellte das Glas weg und zog mit einem Finger einen Kreis um das Krähentattoo an der Unterseite ihres Handgelenks. „Jede kleine Bewegung hilft. Versprochen.“ Sie stützte die Hände auf den Tresen, sah Elyf aus ihren dunklen Augen an. „Du wirst das hinbekommen. Gib dir Zeit.“ Yra machte ein Zeichen Richtung Küche. Gleich darauf stand eine Schüssel voll warmer, dicker Suppe vor Elyf. Yra reichte ihr einen Löffel. „Das beste Frühstück nach einer dieser Nächte“, sagte sie nachdrücklich. „Iss.“

Elyf tauchte den Löffel ein. Es kam ihr gar nicht in den Sinn zu widersprechen. Und eine bessere Suppe hatte sie nie zuvor gekostet. Sie schmeckte nach Zuversicht und nach Zuhause.

(Im November lassen wir uns bei @phantastischermontag von dem Song „Kid Fears“ der Indigo Girls inspirieren. Die anderen Geschichten könnt ihr nachlesen bei: Carola Wolff Bella Ella, bei C. A. Raaven Kinderspiel, Alexa Pukall Kohlefresser.)