Phantastischer Montag: Zwischen den Welten

Andra ließ zur Beruhigung eine kleine Flamme in sich entstehen, klein genug, dass sie nicht aufsteigen würde, groß genug, dass sie ihr Zuversicht schenkte. Sie beglückwünschte sich dazu, in ihrer Drachengestalt hier zu sein und nicht in ihrer menschlichen Form. Die stetige Flamme in ihrem Inneren verbreitete wohlige Wärme. Sie blickte die Treppe hinauf zu dem geheimnisvollen Wesen, das die Tür zur Sozietät für phantastische Halbwesen in Notlagen X (marks the spot) bewachte. In der Stille unter dem hohen Kuppeldach meinte Andra, ihre eigene innere Flamme knistern zu hören.

Die Wächterin verzog die Lippen ihres menschlichen Anlitzes zu einem Lächeln. Allerdings zu einem, von dem keinerlei Wärme ausging. Andra unterdrückte ein Schaudern. Sie würde vor dieser Wächterin mit Löwenkörper und Menschenkopf keine Schwäche zeigen! Sie würde ruhig bleiben, das Rätsel lösen, wie kompliziert auch immer es sein mochte. Sterben war keine Option. Andra grub die Vorderkrallen in den Marmorfußboden. Das knirschig-kratzende Geräusch durchbrach die Stille, und das Lächeln der Wächterin vertiefte sich.

Hör mir gut zu“, hallte ihre Stimme durch die weite Kuppelhalle. „Hier ist mein Rätsel für dich. Ich bin, was du mitnimmst, nicht, was du zurücklässt. Was bin ich?“

Nicht einmal ihre in den Steinfußboden gegrabenen Krallen boten Andra noch Halt. Was bitte sollte das sein? Ihr Schwanz zuckte, ihre Flügelspitzen zitterten. Das konnte alles sein! Die Flamme in ihrem Inneren flackerte, zischte, erlosch. So also würde es enden. Mit einer Fremden, die mit hochgezogenen Augenbrauen auf sie herablächelte, den pelzigen Schwanz über die Vorderpfoten drapiert – alle Muskeln unter dem täuschend weichen Fell angespannt, bereit zum Sprung.

Sie würde allein sterben und eine ganze Welt mit in den Tod reißen. Elyfs Welt. Elyf. Andra starrte auf den Marmor vor ihren Tatzen, starrte auf die grau-schwarzen Linien im Weiß und konnte nicht verhindern, dass sie sich in ihrem Kopf zu einer Nebelkrähe formten. Einer Nebelkrähe, die sie aus dunklen Augen anblitzte, mit ihr durch den Nachthimmel flog, zwischen den Sternen hindurchtauchte, sich hinabstürzte, auf die Baumkronen weit unter ihnen zusauste, sich abfing, sicher zwischen den Bäumen auf weichem Gras landete, krächzend lachte, sich drehte, sich wandelte, die Arme um sie schloss, während sie beide in Menschengestalt auf das Gras sanken, wispernd, weich, einander wiegend.

Und doch hatte sie Elyf eines immer verschwiegen.

Andra zog mit ihren Krallen tiefe Rillen in den Marmor. Sie schuldete Elyf wenigstens einen Versuch. Den schuldete sie dieser ganzen Welt.

Oh. Die ganze Welt. Vielleicht würde sie doch keine unmöglichen Rätsel lösen müssen. Oder sterben. Andra hob den Kopf. „Ich habe einen anderen Vorschlag. Du tust mir einen Gefallen und lässt mich einfach durch diese Tür, und ich erwidere den Gefallen, indem ich die Welt vor dem sicheren Untergang rette. Sie ist nämlich in Gefahr.“ Mit jedem Satz wurde ihre Stimme leiser. „Ein tödliches Gift breitet sich in ihr aus. Noch weiß niemand davon. Außer mir.“

Die Wächterin betrachtete sie schweigend, immer noch mit diesem halben Lächeln. Sie strich mit einer Pfote über ihren Schwanz und summte dabei vor sich hin. „Von welcher der vielen Welten sprichst du?“

Andra schluckte. Nun gut, wenn es ihre Heimatwelt und die Welt von Elyf gab, dann war die Vorstellung von noch vielen weiteren Welten nicht ganz und gar abwegig, das musste sie zugeben. Sie fachte die kleine Flamme in sich wieder an, damit ihre Stimme zuversichtlich klang. „Nun, natürlich von der, auf der wir jetzt sind.“

Ah.“ Die Wächterin nickte. Sie stand auf, streckte und dehnte sich, dann ließ sie sich mit einem kleinen Seufzer wieder auf allen Vieren nieder. „Da liegt dein Fehler. Du nimmst an, wir wären noch auf der Welt, auf der du dich zuletzt aufgehalten hast. Aber hier sind wir zwischen allen Welten.“ Die Wächterin zuckte mit den Schultern. „Du siehst also, diese Welt, von der du da sprichst, ist uns gänzlich gleichgültig.“ Sie klackte mit ihren Krallen einen langsamen Rhythmus auf dem Marmorboden. „Da du nun schon einmal hier bist und ganz offenbar ein ernstes Anliegen hast, willst du es nicht mit dem Rätsel versuchen?“

Als hätte sie noch eine Wahl! In all der Zeit ihrer Verbannung hatte sie sich noch nie so sehr nach ihrer eigenen Welt gesehnt. Sie verfluchte sich für ihre Neugier, ihren Leichtsinn, sie verfluchte alle glitzernden Verlockungen, die sie dazu verführt hatten, ihr Feuer mit den Regentropfen zu mischen. Hätte sie der Versuchung doch niemals nachgegeben! Dann könnte sie jetzt zuhause sein, ein Lavabad mit Freundinnen nehmen, Feuerweitspucken veranstalten, die vielfältigen Rauchgerüche der anderen Drachen genießen, alle mit ihrer ganz eigenen Mischung, sie könnte sich abends mit ihnen unter dem weitesten aller Sternenhimmel zusammenrollen und den Geschichten der Alten lauschen, sich von den rauen, tiefen Stimmen in den Schlaf tragen lassen, in Träume voller Sternenlicht. Sie zitterte vor Sehnsucht. „Zuhause“, wisperte sie, und das Wort hallte durch die große Kuppelhalle.

Ist das deine Antwort?“

Die Stimme der Wächterin fuhr kühl mitten in ihre aufgewühlten Erinnerungen. Sie musste sich beruhigen! Wenn sie je wieder nach Hause gelangen wollte, musste sie sich zusammenreißen, nachdenken, die richtige Antwort finden. „Wie war nochmal die Frage?“, gab sie zurück, um Zeit zu gewinnen, damit sie ihre kreiselnden Gedanken einfangen konnte.

Die Wächterin seufzte, als wäre sie irgendwie enttäuscht von ihr. Ein Seufzen, an das Andra sich nur zu gut erinnerte. Genauso hatten die Alten geklungen, bevor sie das Urteil ihrer Verbannung aussprachen. In der Stimme der Wächterin lag allerdings keinerlei Mitgefühl. „Wiederholungen“, murrte sie. „Unerträglich.“ Sie verzog die Lippen, als hätte sie einen besonders bitteren Geschmack im Mund. „Hör mir gut zu, denn noch einmal werde ich das Rätsel nicht wiederholen. Hier ist es: Ich bin, was du mitnimmst, nicht, was du zurücklässt. Was bin ich?“

Andra ließ eine Flamme über den Marmor vor ihren Tatzen wandern. Hell genug, dass die im Stein verborgenen Kristalle aufschimmerten, kühl genug, ihn nicht zu schmelzen. Rauch stieg aus ihren Nüstern und sie so den scharf-warm-aschig-wohligen Geruch tief in sich ein. Ein Hauch von Wildbeeren und der intensive Geschmack von Bittermoos breiteten sich auf ihrer Zunge aus. Wohin sie auch ging, ihr Feuer, diese Gerüche, diese Geschmäcker, all diese Erinnerungen trug sie immer bei sich. Sie boten Wärme und Vertrautheit wie – ja, wie zuhause. Andra schloss die Augen, um das Gefühl noch etwas länger zu genießen, in sich zu verankern. Das war ihre Antwort. Da war sie ganz sicher. Nur ob es die richtige Antwort war, da war sie ganz und gar nicht sicher. Und wenn sie falsch lag, wollte sie wenigstens voll in diesem Gefühl von zuhause aufgehen, damit bis zum Ende gehen.

Zuhause“, wiederholte sie laut und mit fester Stimme. „Das ist meine Antwort.“

Die Wächterin erhob sich. Sie neigte den Kopf nach links. Sie neigte den Kopf nach rechts. Sie ließ die Schultern kreisen. „Es ist halt immer ein riskantes Spiel“, sagte sie und blickte Andra aus ihren unergründlichen Augen an. „Ich gewinne natürlich immer. Eine richtige Antwort bedeutet, dass ich der Geschichte weiter folgen darf. Eine falsche Antwort bedeutet einen Leckerbissen für mich.“

Andra spannte alle Muskeln an. Sie würde kein leichter Leckerbissen werden, nahm sie sich vor.

Die Wächterin trat ein paar Schritte zur Seite, gab den Blick auf die Tür frei. „Dieses Mal ist es die richtige Antwort. Glückwunsch, du darfst eintreten.“

Die Tür schwang weit auf.

Andra sprang in die Höhe und flog hindurch. Der Wächterin gönnte sie keinen Blick mehr.

… Fortsetzung folgt im August! Im Juli haben wir uns ein Zitat von N. K. Jemisin als Thema genommen: Home ist what you take with you, not what you leave behind. (Broken Earth Trilogy)
Was die Kolleg*innen draus gemacht haben, könnt ihr hier nachlesen:
Carola Wolff Heimaterde
C. A. Raaven: Subway to Sally