Phantastischer Montag: Schwüre und Wagnisse

(Im Juli widmen wir uns dem Genre „Dark Academia“ – und es gibt mal wieder fünf Montage in diesem Monat, d.h. ihr könnt euch in einer Woche gleich auf drei Geschichten freuen! Den ersten Teil der heutigen Geschichte findet ihr hier: Die Portalhüterin)

Das Portal schwang lautlos auf. Porthea erlaubte sich einen letzten Moment des Zweifels. Hinter sich wusste sie alles, was Sicherheit versprach: ihren Tisch mit der Teekanne, die, einmal am Morgen aufgebrüht, erst am Abend leer wurde und ihr damit bedeutete, dass es an der Zeit war, ins Bett zu gehen. Die Dienstagstasse, die immer noch neben der Kanne stand, das Portalbuch in ausreichendem Abstand dazu, geschlossen jetzt. Und nur wenige Meter vom Tisch entfernt, ihre Hütte. Porthea musste sich nicht umdrehen, um all dies deutlich zu sehen. Sie musste auch nicht die Augen schließen, um Draks vor sich zu haben.
„Dieses verdammte Drachenwesen“, murmelte sie und trat durch das Portal. Die Entscheidung, ob sie ihr folgen wollte oder nicht, überließ sie Ilana, sagte nichts, aber natürlich spürte sie die Gestaltwandlerin sogleich viel zu dicht in ihrem Rücken. Das Portal knarrte, als es zuschlug. Porthea straffte sich. Das kalte Rieseln auf ihrer Haut konnte sie damit nicht vertreiben. Sie sollte nicht hier sein. Sie gehörte auf die andere Seite des Portals. Ilana drängte sich an ihr vorbei und marschierte schnurstracks drauflos.
„He! Was tust du da?“ Porthea eilte ihr hinterher und packte sie mit einer Hand an der Schulter, drückte alle ihre fünfzehn Finger in die weiche Mulde des Schlüsselbeins.
„Zu Draks gehen!“ Ilana wand sich unter ihrem Griff. „Ich habe doch gesagt, ich kann spüren, wo-“ Sie keuchte auf, als Porthea fester zudrückte. „Au!“
„Wo?“, fragte Porthea ungerührt. Sie hatte keine Zeit für Höflichkeiten. Draks finden und so schnell wie möglich verschwinden – das war der Plan. Nichts anderes. Trotzdem konnten sie es sich nicht leisten, unbedacht in eine der tausend Bibliotheken zu stürmen! Erstens gewährte nicht jede von ihnen einfach so Einlass (manche forderten das Lösen von Rätseln, andere ließen sich nur durch ein Labyrinth betreten, während für wieder andere ein Passwort benötigt wurde; manche verlangten gar eine Prüfung, die auch tödlich ausgehen konnte). Zweitens wollte Porthea nicht unvorbereitet ein Gebäude betreten, in dem unbekannte Gefahren lauerten.
… wenn Ilana zu dir kommt, ist mir etwas zugestoßen, hatte Draks geschrieben. Nur sie kann mich retten. Und wenn Draks Rettung brauchte, musste die Gefahr eine große sein. Drachen waren nicht leicht zu überwältigen oder gar gefangenzuhalten. An weitere Möglichkeiten wollte Porthea nicht denken. Wortlos schob sie Ilana vor sich her auf den großen Turm zu, an dem alle um Einlass bitten mussten, die in eine der Bibliotheken wollten. Groß und grau erhob er sich inmitten des einzigen Weges, der sich bald hinter dem Turm in das Wirrwarr der Gebäude verzweigte. Von hier aus wirkte es, als würden die Bibliotheken sich übereinander stapeln. Brücken, die aus der Ferne wie geschwungene, dünne Striche wirkten, verbanden manche von ihnen, andere zogen sich an Berghängen empor, einsam und mit dicken Mauern, die sowohl Kälte wie Hitze trotzten.
Ilana stolperte vor ihr her und schwieg. Porthea hoffte immer noch, dass die Gestaltwandlerin mehr mitbrachte, als ihre verwandtschaftliche Verbindung mit Draks, die sie spüren ließ, wo Draks steckte. Was sie zu ihrer Frage zurückbrachte. „Zu welcher der Bibliotheken müssen wir?“
Ilana deutete links am Turm vorbei, mitten hinein in das Wirrwarr von Gebäuden. „Irgendwo dort.“
Irgendwo? IRGENDWO? Was war das bitte für eine Aussage? Wie sollte das helfen? Porthea stoppte und gab Ilana frei. „Geht das etwas genauer?“, grummelte Porthea. Immerhin hätte sie sagen können, die aus den helleren Steinen dort drüben. Oder die mit den vielen Türmen, die mit dem hohen Eisengitter, die mit den bunten Glasfenstern, die mit dem riesigen Steindrachen, dessen Flügel das Dach bildeten – es gab buchstäblich tausend Möglichkeiten. Ilana rieb sich die Schulter, die Porthea eben noch umklammert hatte. Sie drückte ihr schlechtes Gewissen weg. „Wir müssen eine Bibliothek nennen, sonst schicken sie uns gleich am Turm zurück.“
„Kannst du nicht einfach irgendeine Bibliothek in der Gegend benennen? Ich muss näher ran, um zu wissen, welche es ist.“
Porthea schloss die Augen und zählte stumm vor sich hin. Bei 27 ging ihr auf, dass es vielleicht sogar geschickt wäre, wenn sie eine Bibliothek nannten, die nicht ihr Ziel war. Schließlich wussten sie nicht, wer Draks bedrohte. Am Ende waren die Turmwachen darin verwickelt! Wenn sie allerdings Pech hatte, würde sie in dem Fall ausgerechnet die Bibliothek nennen, in der Draks tatsächlich war. Porthea musste bis 39 weiterzählen, bevor sie sprechen konnte. „Geht es ein wenig genauer, als irgendwo dort links?“
Ilana seufzte und schüttelte den Kopf. „Dafür muss ich näher ran.“
Wie groß war die Chance, dass alles zusammentraf – die richtige Bibliothek, eine Verschwörung der Turmwachen gegen Draks? Porthea gab sowohl das Zählen als auch das Rechnen auf. Je länger sie nachdachte, desto mehr mögliche Faktoren fielen ihr ein. Und am Ende bliebe ihr doch nichts anderes, als das Risiko einzugehen, ganz egal wie die Wahrscheinlichkeiten aussähen. „Gehen wir“, grummelte sie. „Und halt bloß den Mund, lass mich mit den Turmwachen reden.“ Sie stupste Ilana an, bedeutete ihr weiterzugehen. Die Gestaltwandlerin nickte stumm, offenbar entschlossen, ihren Worten ab sofort nachzukommen. P0rthea beschwerte sich nicht. Schweigend liefen sie nebeneinander her.
Das Tor des Turms schwang auf, als sie fünf Schritte davon entfernt waren. Porthea strich sich mit allen dreißig Fingern über die Schuppen auf ihrem Kopf. Dann legte sie schnell die letzten fünf Schritte zurück und betrat den Turm. Das Licht eines hellgrauen Wolkentages füllte die runde Kammer am Fuß des Turmes, ohne dass sie eine Lichtquelle ausmachen konnte. Die Turmwachen – sieben an der Zahl – standen grau und hoch vor den sieben Türen, die wieder aus dem Turm hinaus zu den Bibliotheken führten. Die langen grauen Gewänder verbargen ihre Gestalt, die großen grauen Kapuzen hüllten ihre Gesichter in Schatten. Aus einem der Schatten ertönte eine schleifende Stimme. „Wohin des Wegs, Reisende?“
Drei, zwei, eins. Porthea zählte schnell noch aufwärts bis sieben, hoffte, ihre Stimme käme ruhig und unbeschwert heraus. „Zur Steindrachen-Bibliothek.“ Fest klang ihre Stimme immerhin.
„Was ist euer Begehr?“, verlangte eine knarzige Stimme zu wissen.
Porthea wandte den Kopf leicht nach rechts. Auch dieses Gesicht lag in tiefen Schatten. „Wir wollen unser Wissen vertiefen“, gab sie zurück. Die Kapuzengestalt rührte sich nicht. Schweigen füllte die Turmkammer. Porthea verharrte regungslos. Hörte Ilanas Atemzüge hinter sich. Darunter etwas leiser ihre eigenen. Sonst nichts. Sie lauschte und lauschte, aber von den grauen Gestalten kam kein einziger Atemzug. Kein Rascheln von Gewändern. Sie standen starr wie der Turm selbst. Endlich ertönte von weit links eine Stimme, die wie brechendes Eis knirschte und dröhnte.
„Euer Ansinnen gefällt der Bibliothek.“
„Wir gewähren euch Einlass“, schallte es ihnen siebenfach entgegen – schleifend, knirschend, splitternd, dröhnend, rau, sopran-hoch wie bass-tief.
„Wir danken euch“, quetschte Porthea heraus. Vielleicht war es viel gefährlicher, die falsche Bibliothek zu benennen als die richtige. Ihre drei Herzen schlugen miteinander um die Wette. Sie schluckte und schluckte und zählte, doch nichts konnte ihre Gedanken aufhalten. Wenn die Turmwachen irgendwie telepathisch mit den Bibliotheken kommunizierten, würden sie erfahren, welche Bibliothek sie betraten. Was, wenn das nicht die Steindrachen-Bibliothek war? Die Tür hinter der Turmwache mit der Eissplitter-Stimme stand plötzlich offen, und die Turmwache war zur Seite gewichen. Porthea hatte weder die eine noch die andere Bewegung bemerkt. Mit Schritten, die hoffentlich entschieden wirkten, verließ sie den Turm, spürte Ilana dicht hinter sich.
Sobald sie beide draußen standen, krachte die Tür hinter ihnen zu. Doch als Porthea herumfuhr, war sie bereits mit dem Mauerwerk des Turms verschmolzen. Allein ein hölzerner Klöppel zeigte an, wie sich die Turmwachen aufmerksam machen ließen, wollte eine von dieser Seite wieder den Turm passieren. Porthea gönnte sich einen tiefen Atemzug. Und noch einen. „Dann mal los“, sagte sie und musste feststellen, dass Ilana ihr bereits weit voraus war. Fluchend eilte sie ihr hinterher. „Hast du eine Ahnung, wie schnell wir uns in diesem Gewirr aus den Augen verlieren können?“, schimpfte sie los, sobald sie in Hörweite kam. Die ersten Abzweigungen waren nur noch wenige Meter entfernt.
„Tut mir leid.“ Ilana verlangsamte ihre Schritte. „Es ist nur – ich spüre Draks immer deutlicher, und es ist schwer nicht loszurennen.“
Porthea packte Ilana am Handgelenk. „Kein Gerenne“, grummelte sie. Wirklich, die Gestaltwandlerin sollte es allmählich begriffen haben. „Wir können Draks nicht helfen, wenn wir uns selbst kopfüber in unbekannte Gefahren stürzen“, setzte sie etwas sanfter hinzu, als sie das Zittern von Ilanas Muskeln spürte. Offenbar tat die wirklich alles, um sich zurückzuhalten. Gemeinsam gingen sie weiter, folgten den verzweigten Wegen an den steinernen Gebäuden entlang, Ilana immer einen halben Schritt voraus. Eine Weile lang schien es Porthea, als hielten sie tatsächlich auf die Steindrachen-Bibliothek zu, doch als sie am Fuß von deren großer Treppe ankamen, schüttelte Ilana den Kopf.
„Draks war hier“, murmelte sie, „aber jetzt ist Draks woanders.“
Porthea biss sich auf die Lippe, damit ihr nicht wieder angstvolle Flüche entfuhren. Der Schmerz lenkte sie ein wenig ab, und so fiel ihr erst verspätet auf, dass Ilana nicht weiterging. „Was ist?“ Sie zupfte an Ilanas Handgelenk. „Wohin jetzt?“
Ilana schloss die Augen. „Draks war hier.“ Sie wandte den Kopf in verschiedene Richtungen. „Aber jetzt ist Draks nicht mehr hier.“ Wieder und wieder murmelte sie diese zwei Sätze vor sich hin. Schließlich hatte Porthea genug. Sie legte die Hände um Ilanas Wangen.
„Wo ist Draks jetzt?“, fragte sie, so ruhig sie konnte.
Ilana senkte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Genau hier verliere ich Draks Spur.“ Sie machte keinerlei Anstalten, Portheas Hände abzuschütteln, starrte sie nur an, als erwarte sie alle Antworten von ihr. Noch einmal biss sich Porthea auf die Lippe. Fester dieses Mal. Es half nicht wirklich. Sie gab Ilana frei und schaute sich um. Links von ihr stieg die Treppe zur Steindrachen-Bibliothek steil in die Höhe. Die hellgrauen mit Silber durchwirkten Stufen glitzerten dort, wo die Sonne sie berührte. Die steinernen Flügel des Drachen neigten sich vom Dach des Gebäudes hinab und umschlossen die Treppe zu beiden Seiten, warfen lange Schatten über die Stufen.
Einer davon streckte sich sogar bis zu Ilanas Fußspitzen. Porthea starrte auf die scharfumrandete Schattenzeichnung am Boden. War das wirklich ein Schatten – oder …? Sie kniete sich auf den Weg. Ganz vorsichtig strich sie mit einer Fingerspitze über die Linie des Umrisses. Schluckte trocken. Strich noch einmal darüber. Kein Irrtum möglich. Da war eine feiner Spalt im Boden. Ein Spalt von einer Tür. Einer schmalen und nicht sehr großen Tür, die in den Boden eingelassen war. Aber definitiv eine Tür, da war sich Porthea sicher. Mit Türen kannte sie sich schließlich aus. Nur den Öffnungsmechanismus von dieser konnte sie nicht entdecken. Noch nicht.
Porthea stemmte sich hoch und folgte der Längsseite der Tür bis zur Flügelspitze des Drachen, die sich an der untersten Stufe leicht nach oben bog. Und die Spitze war keine Spitze sondern … „ein Knauf.“ Porthea winkte Ilana zu sich, dann verschränkte sie eilig die Finger miteinander, um nicht voreilig den Knauf zu berühren, während Ilana über die Tür im Boden lief. Sobald die Gestaltwandlerin sicher neben ihr stand, zeigte Porthea ihr, was sie entdeckt hatte. „Vielleicht ist Draks dort hinein.“ Als sie es aussprach, kam es ihr selbst schon unwahrscheinlicher vor als noch vor wenigen Augenblicken. Und trotzdem. „Meinst du, wenn wir hineingehen, kannst du die Spur wieder aufnehmen? Vorausgesetzt …“ Den Satz ließ sie offen. Es half niemandem, wenn sie sich jetzt in Wahrscheinlichkeiten verlor.
„Möglich.“ Ilana starrte die Umrisse auf dem Boden an.
Möglich genügte Porthea für diesen Moment. Sie legte eine Hand um den Knauf. Drehte daran. Nach links ließ er sich bewegen. Eine halbe Umdrehung, dann stockte er. Am Boden rührte sich nichts. Dafür ertönte von oben, vom Dach her, ein knirschendes Geräusch – ganz so, als schabte Stein über Stein. Porthea hob zögerlich den Kopf. Der Steindrache hatte seinen gesenkt, blickte sie beide aus dunklen Augen an. Das Knirschen verstummte. Porthea wagte nur sehr, sehr leise zu atmen. Ilana drückte sich an sie. Aber auch sie schwieg und atmete ganz, ganz leise. Sekunden vergingen.
Minuten. Dann öffnete der Drache knirschend sein Maul. Ilana klammerte sich an Portheas Arm. Porthea konnte sich nicht rühren. Schon sah sie vor sich, wie der Drache sich weiter und weiter hinabbeugte, sie beide knirschend verschlang, krachend zerkaute. Doch der Drache öffnete nur weiter sein Maul, kam ihnen nicht näher. Schließlich ertönte ein Husten wie ein Donner aus seiner Kehle – und gleich darauf segelte ein Zettel vom Dach hinab. Das weiß-gelbe Stückchen Papier schwebte durch die Luft, wehte mal nach links, mal nach rechts, sank gemächlich tiefer und immer tiefer. Irgendwann schwebte es vor Portheas Gesicht. Dann vor ihrem Brustkorb. Vor ihrem Bauch. Berührte ihren rechten Handrücken. Da erst griff sie zu. Das Maul des Drachen hing noch immer weit geöffnet hoch über ihnen. Porthea zwang sich, davon wegzuschauen.
Der Zettel war weich wie Stoff. Porthea räusperte sich und ruckte an ihrem linken Arm, den Ilana immer noch umklammerte. Sie musste sich noch einmal räuspern und stumm bis elf zählen, dann kam auch in Ilana Bewegung und sie gab Portheas Arm frei. „Tut mir leid“, wisperte sie, schielte hoch in das aufgerissene Drachenmaul, sah schnell wieder weg. Porthea legte den Zettel auf ihre linke Handfläche, strich ihn glatt. Nur wenige Zeilen standen darauf.

Wenn Sie Einlass begehren,
werden wir Ihnen diesen nicht verwehren.
Nur eines müssen Sie versprechen
(denn jeden Verrat wird der Steindrachen rächen):
Schwören Sie, nie ein Wort über das zu sagen,
was wir in der Lebendigen Bibliothek zu verwahren wagen!
Schwören Sie‘s bei Ihrem höchsten Eid –
und die Tür ist für Sie bereit.

Porthea ließ die Hand mit dem Zettel sinken. Gleichzeitig blickten sie hinauf in das Maul mit den spitzen Zähnen. Nur zu gut ließ sich da erahnen, wie die Rache des Steindrachen aussehen würde. Porthea schloss die Hand zur Faust. „Bereit?“, flüsterte sie, ohne von den Zähnen wegzuschauen. Genau wie die Steinstufen hier unten blitzten sie silbern auf, dort, wo Sonnenstrahlen sie trafen. War sie denn bereit? Bereit, eine Bibliothek zu betreten, die mit höchster Wahrscheinlichkeit verbotenes und oder gefährliches verwahrte – worüber sie nie würde reden dürfen – nur auf die kleine Chance hin, Draks darin zu finden? Was, wenn Draks nicht dort unten war? Was, wenn Draks dort war? Dieses Rätsel würde sie nur lösen, wenn sie durch die Tür ging. Ihre Sehnsucht nach Draks forderte sie auf, das Versprechen zu geben. Alle ihre Vorsicht, all ihre Vernunft rieten Porthea davon ab. Dringend.
„Bereit“, wisperte Ilana. Sie trat einen Schritt vor. „Ich gebe mein Versprechen und schwöre bei meiner Gabe der Gestaltwandlung, nie über das zu reden, was in der Lebendigen Bibliothek verwahrt wird. Sollte ich mein Wort brechen, werde ich auf ewig in einer einzigen Gestalt verharren.“ Ilana überkreuzte ihre Arme vor der Brust, berührte mit den Fingerspitzen ihr Schlüsselbein. Als sie sich verneigte, sah Porthea, wie sie zitterte. Jetzt blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als es der Gestaltwandlerin gleich zu tun. Porthea trat neben sie.
„Ich gebe mein Versprechen und schwöre bei allem, was ich über die Welten hinter dem Portal weiß, dass ich nie über das reden werde, was in der Lebendigen Bibliothek verwahrt wird. Sollte ich mein Wort brechen, werde ich all mein Wissen vergessen, auch das Wissen um das Portal. Auch das Wissen um mich selbst.“ Porthea berührte ihre Stirn und dann ihren Brustkorb mit den drei Herzen. Sie spürte das Schaudern, das sie zuvor bei Ilana gesehen hatte. Denn sobald sie ihren Eid zu Ende gesprochen hatte, zeigte ihr eine Vision in ihrem Kopf, was genau geschehen würde, sollte sie ihr Wort brechen: Erst genau das, was sie eben ausgesprochen hatte. Dann würde eine unwiderstehliche Kraft sie genau hierher ziehen. Der Steindrache würde seinen Kopf senken. Er würde sein Maul aufreißen. Er würde sich über die Dachkante hinabbeugen, tief hinab, so tief, dass er seine spitzen Zähne in sie schlagen konnte. Und das wäre ihr Ende. Ein sehr schmerzhaftes Ende.
Über ihnen schnappte knirschend-krachend das Maul des Steindrachen zu. Gleichzeitig zuckten Porthea und Ilana zusammen. Gleichzeitig tasteten ihre Hände nacheinander, fünfzehn Finger schlangen sich um fünf. Gleichzeitig traten sie auf die Tür. Etwas wirbelte sie herum, von den Füßen auf den Kopf und wieder zurück und wieder und wieder und noch einmal. Sie fielen und wirbelten und stürzten. Nur ihre miteinander verschränkten Finger gaben ihnen Halt.
Plötzlich spürte Porthea festen Boden unter den Füßen. Ihr schwindelte. Sie schwankte noch von all dem Herumgewirbele und packte Ilanas Hand fester, ließ erst locker, als der Schwindel verebbte. Sie standen in einem weiten, hohen Raum. Links von ihnen reihten sich Tische hintereinander und daran saßen die unterschiedlichsten Wesen, beugten sich schweigend über die Bücher, die vor ihnen lagen. Rechts von ihnen begannen die Regale. Sie reichten bis zur Decke und die Gänge zwischen ihnen wirkten wie enge, tiefe Schluchten. Aber all das war es nicht, was Porthea erstarren ließ. Das war das Wispern, das von den Büchern ausging: „Helft uns, bitte, bitte, helft uns.“

… Fortsetzung: Die Magie von Portalen
Und wer nachlesen möchte, was es mit den wispernden Büchern und der Lebendigen Bibliothek auf sich hat, liest bei einer Geschichte aus 2022 nach Der Preis für Magie.

Die Geschichten der Kolleg*innen zum Genre „Dark Academia“ findet ihr hier:
Carola Wolff: Grüner Daumen
C.A. Raaven: Unten nach oben