Phantastischer Montag: Die Portalhüterin

(Im Juni widmen wir uns bei #phantastischermontag dem Genre Portal Fantasy.)

Der Tag fing wirklich gut an. Nach Porthea Partellas Maßstäben zumindest. Niemand störte sie beim Frühstück vor ihrem Häuschen, das nur wenige Meter neben dem großen Baum stand. Ihrem Arbeitsplatz. An dem sie jetzt saß, eine Kanne frisch aufgebrühten Tee vor sich auf dem Tisch, die Füße nackt im Gras ausgestreckt, eine kleine Nachlässigkeit, die sie sich im Sommer gönnte – nun, eigentlich schon im Frühling und so lange in den Herbst hinein wie möglich. Die kleinen Schuppen an ihren Füßen hielten Kälte wie Hitze zwar bis zu einem gewissen Grad ab, aber gegen Frost schützten auch sie nicht.

Die Dienstagstasse stand linkerhand auf dem Holztisch, gleich neben der Kanne, mit der das blaue Blumenmuster auf der Tasse hervorragend harmonierte (so wie jede ihrer Tassen farblich auf die Kanne abgestimmt war, eine andere für jeden Tag der Woche). Rechterhand – und in gebührender Entfernung von Flüssigkeiten – lag das Buch. Geschlossen noch, genau wie das Portal im Baumstamm. Alles war bereit für den Tag, auch Porthea, die eben einen Schluck Earl Grey nahm, als die erste Reisende des Tages vor ihr auftauchte. Ja, auftauchte, denn der Baum mit dem Portal, ebenso wie Porthea Partellas Häuschen, lagen hinter einem magischen Schleier, den nur durchqueren konnte, wer um seine Existenz wusste.

Porthea stellte in aller Ruhe die Tasse zurück auf den Tisch, dann zog sie das Buch zu sich heran, während sie sich zugleich die Lesebrille auf die Nase nestelte. Die Brille hing ihr an einer bunten Schnur um den Hals, ein Kompromiss, denn eigentlich missfiel ihr das Kitzeln der Schnur am Hals, aber noch mehr missfiel es ihr, wenn die Brille auf ihrem Kopf saß und gegen die empfindsamen Schuppen dort drückte. Manchmal waren Haare wohl ganz praktisch, aber trotzdem bevorzugte sie ihre Kopfbedeckung.

Porthea räusperte sich und schielte über die Brille hinweg zu der Reisenden. Abgesehen von einem bläulichen Schimmer, der sich nur erspähen ließ, wenn eine sehr genau hinschaute – und Porthea schaute immer sehr genau hin – wirkte die Gestaltwandlerin gerade sehr menschlich. Nun, eine jede nach ihrem Geschmack.

„Wohin soll es gehen?“ Porthea griff nach dem Füllfederhalter, der seinen Platz an der langen Seite des Tisches hatte, und tauchte ihn in das Tintenfässchen, das ebenfalls dort stand.
„Zu den tausend Bibliotheken.“

Porthea trug den Reisewunsch auf der Seite mit dem aktuellen Datum in ein noch leeres Formular ein. Wie bitte entschied sich eine, welche Bibliothek sie betreten wollte, wenn tausend zur Auswahl standen? Aber die Frage musste sie zum Glück nicht beantworten. Porthea reiste nie. Unter anderem deshalb war der Job als Portalhüterin für sie perfekt. Sie wusste zwar alles, was es über die Welten hinter dem Portal zu wissen gab – gehörte alles zur Ausbildung -, aber wie der Name schon sagte, hüteten Portalhüterinnen das Portal, sie gingen nicht hindurch.

„Rückreisedatum?“ Sie hielt die Spitze der Feder wenige Millimeter über der entsprechenden Zeile im Formular in der Luft. Die Antwort ließ auf sich warten. Und warten. Und warten.

Und warten. Porthea hob den Kopf, ohne dabei den Füllfederhalter zu bewegen. „Rück-reise-datum?“ Sie sprach extra langsam und deutlich. Manche Reisende waren schon so sehr mit ihrem Reiseziel beschäftigt, dass sie keinerlei Aufmerksamkeit für die Formalitäten verwendeten. Lästig. Aber es kam vor. Immer wieder. Manchmal kam es auch vor, dass sie es nicht verraten wollten. Drei Mal hatte Porthea Reisende zurückhalten müssen, die das Portal mit Gewalt hatten öffnen wollen. Aber auch dafür war sie ausgebildet. Ihren Kampftechniken war niemand gewachsen.

Die Gestaltwandlerin trat von einem Fuß auf den anderen, räusperte sich, blickte zum Portal, zu Portheas Schreibtisch und wieder zurück zum Portal. „Das weiß ich noch nicht“, wisperte sie schließlich.
Porthea wäre fast der Füllfederhalter aus der Hand gefallen. Fast. Eilig presste sie ihre Finger darum. Tintenkleckse auf dem Papier! Das wollte sie sich nicht einmal vorstellen! Ihr Herz raste. Ihr war heiß. Ihr Atem ging schwer. Kein Rückreisedatum. Kein! Rück! Reise! Datum! Sie krallte ihre freie Hand in ihre Seite, bis die Stimme in ihrem Kopf ein wenig leiser schrie.

Atmen, redete sie sich mit ihrer Vernunftstimme zu. Ganz ruhig atmen. Jeden Atemzug zählen. Die Konzentration auf die Zahlen beschwichtigte sie zuverlässig. … dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Porthea entkrampfte ihre Finger. Das würde blaue Flecken geben! Sechzehn, siebzehn. Der Schweiß an ihren Kopfschuppen trocknete. Achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Vorsichtshalber legte sie den Füllfederhalter neben das Buch und verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Ohne Rückreisedatum kann ich Sie nicht reisen lassen. Das wissen Sie doch.“ Sollte die Reisende zumindest wissen. Schließlich war sie ohne Begleitung hier aufgetaucht. Das konnte also nicht ihre erste Reise sein.

„Ich – äh …“ Die Gestaltwandlerin fuhr mit der linken Hand in eine der Taschen ihres Gewandes und zog einen – sehr zerknüllten – Zettel hervor. Den legte sie ohne um Erlaubnis zu bitten auf Portheas Tisch. Direkt vor ihre verschränkten Hände. Porthea zog sie ein wenig zurück. So verschmutzt wie der Zettel aussah, wollte sie den nur anfassen, wenn es gar nicht anders ginge. Das Zettelknäuel lag also da, und das Schweigen breitete sich immer länger aus. Und aus. Und aus.

Was dachte diese Person sich? Dass sie ewig Zeit hatte? Was, wenn mehr Reisende auftauchten? Sollten die sich dann vor dem Schleier anstellen und warten? Denn der ließ immer nur eine Person durch. Im Ausnahmefall auch mal zwei. Aber mehr Personen auf einmal vertrug Porthea einfach nicht. Noch so ein Grund, aus dem der Job hier perfekt für sie war. Es sei denn, jemand wie diese Person vor ihr brachte alles durcheinander.

„Das hat mir Draks geschrieben.“ Die Gestaltwandlerin deutete mit dem Kinn auf das Zettelknäuel, als würde das alles erklären. Nun, der Name erklärte einiges. Draks war – eigen. Porthea seufzte. Was hatte dieses Drachenwesen jetzt wieder angestellt? Ihre Finger zuckten. Als wollten sie nach dem Zettel greifen. Porthea hob die Augenbrauen und griff stattdessen nach dem Buch, schlug die Seite des Inhaltsverzeichnisses auf. Natürlich erinnerte sie sich, wann sie Draks das letzte Mal gesehen hatte – auch wenn sie sich die Details der Reise nicht merkte. Tat sie nie. Wozu auch? Alle, auch Draks, kamen immer wieder hierher zurück. Porthea blätterte zum Formular für Draks letzte Reise – und zog ihre Augenbrauen noch höher. Das war unmöglich. Nicht möglich. Un-un-un-unmöglich. Niemals möglich. Atmen!, befahl sich Porthea erneut. Und begann zu zählen. Erneut.

Offenbar musste sie nun doch diesen Zettel berühren. Mit drei ihrer fünfzehn Finger faltete Porthea das Papier auseinander. Zu ihrem Glück war sie jetzt schon auf ruhiges und tiefes Atmen eingestellt, sonst hätten die Worte darauf eine Schockstarre ausgelöst. Mindestens für den Rest des Tages. Wenn nicht länger. Und wer hätte sich dann um die Reisenden gekümmert? … siebenundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig.

„… und Draks hat gesagt, ich darf den Zettel nur lesen, wenn Draks nach siebzehn Tagen nicht zurück ist. Und jetzt sind es schon zwanzig Tage, weil ich, weil ich, …“ Die Gestaltwandlerin schluckte und senkte den Blick. „Weil ich zwei Tage lang nicht zuhause war.“ Sie sah kurz zu Porthea. „Und dann hab ich noch einen Tag gebraucht, um Draks Nachricht zu entschlüsseln.“

Porthea schnaubte. Einen ganzen Tag? Dabei war diese Verschlüsselung nun wirklich simpel. So simpel, dass es schon an Beleidigung grenzte, sie Verschlüsselung zu nennen! Nicht nur hatte Draks den Weg zum Portal aufgeschrieben – aufgeschrieben! In Portheas Brust wurde es schon wieder gefährlich eng. Nein, Draks hatte auch noch eine Botschaft an sie persönlich hinzugefügt. Immerhin etwas besser verschlüsselt als die Wegbeschreibung.

Liebste Porthea,
wenn Ilana zu dir kommt, ist mir etwas zugestoßen. Etwas, das mich nicht einmal mehr das Not-Rückreise-Portal nutzen hat lassen. Bitte gestatte ihr die Reise, auch wenn es ihre erste ist. Nur sie kann mich retten. Begleite sie, wenn das dein Formular-Herz beruhigt.
Immer in Hochachtung,
Draks.

Die Hochachtung konnte Draks sich sonstwohin stecken! Wieso wusste sie nichts davon, dass Draks sich in Gefahr begeben hatte? Bei allen Himmeln und Meeren und Büchern! Sie würde Draks eine ausgiebige Rede halten, sobald sie das Drachenwesen in die Finger bekam! Porthea starrte auf ihre Finger, die winzigen, weichen Schuppen an ihren Fingerkuppen. Zu genau konnte sie spüren, wie sie damit das letzte Mal über Draks Schuppen gestrichen hatte, die festen am Rücken, die zu den Seiten hin immer weicher wurden und am Bauch dann ganz zart waren, weicher noch als ihre eigenen Fingerspitzen. Sie hörte Draks lachen und „auf bald“ rufen, als sich das Portal hinter Draks schloss. Porthea schluckte. Es war noch nie eine gute Idee gewesen, sich mit Reisenden einzulassen. Sie presste ihre zitternden Hände aneinander. Hoffentlich hatte die Gestaltwandlerin nichts davon bemerkt.
„Name?“ Porthea lauschte der eigenen Stimme. Ja, sie klang ruhig. Immerhin.

„Ilana“, kam die Antwort sofort. Was einmal mehr bewies, dass diese Person noch nie gereist war. Niemand musste hier den eigenen Namen preisgeben. Viel zu intimes Wissen. Porthea kannte nur die Namen der Reisenden, mit denen sie sich – nun ja, anfreundete.
„Bitte – wenn Draks in Gefahr ist …“

Es war ganz und gar gegen jedes Protokoll, eine Reisende ihre erste Reise allein antreten zu lassen. So viel konnte passieren – so vieles schiefgehen … Porthea atmete gegen ihre Wut an. Es war ganz und gar gegen jedes Protokoll, dass die Portalhüterin ihren Posten verließ. Das wusste Draks ganz genau! Porthea zählte bis fünfzig. Und da das nicht half, zählte sie weiter bis hundert, begann wieder von vorn.

Nach der fünften Wiederholung beruhigte sich ihr Herzschlag. Porthea starrte auf das Portal, als könnte das ihr eine Antwort geben. Es hob sich wie immer in etwas dunkleren Farbtönen von der Baumrinde ab, blieb aber – ebenfalls wie immer – stumm. Mit jeder Schuppe an ihrem Körper wünschte Porthea sich in die Zeit ihrer Ausbildung zurück. Dann könnte sie jetzt ihre Vorgängerin um Rat bitten. Aber wie es sich für eine Portalhüterin gehörte, hatte sie am Ende der Ausbildung Porthea die volle Verantwortung für das Portal übergeben und und hatte dann das Portal geöffnet – ein letztes Mal.

So wie alle Portalhüterinnen vor ihr. So, wie es auch Porthea tun würde – irgendwann. In ferner Zukunft. Definitiv nicht jetzt. Sie hatte ja noch nicht einmal damit begonnen, eine Nachfolgerin auszubilden! Und das Portal durfte nie ohne Hüterin zurückbleiben. Porthea starrte auf ihre Fingerkuppen. Perfekt ausgebildete, winzige Schuppen. Wie immer. Nicht einmal die zarteste Andeutung von Rinde. Dafür war sie auch noch viel zu jung. Gerade einmal neunundneunzig. Ihre Vorgängerin und Ausbilderin war mit dreihundertsiebzig ins Portal gegangen. Das Räuspern der Gestaltwandlerin ließ sie zusammenzucken.

„Darf ich – ich meine, wäre es möglich eine Ausnahme … für Draks?“
Porthea knüllte den Zettel in einer Hand zusammen. Als ginge es nur um ihr Formular-Herz! Wenn Draks das von ihr dachte, dann kannte Draks sie nicht wirklich. Und das schmerzte noch mehr als die verdammte Entscheidung, die sie hier treffen musste. Zum ersten Mal in ihrem Leben verfluchte Porthea den Tag, an dem sie sich entschlossen hatte, Portalhüterin zu werden. An dem sie zugestimmt hatte, nie durch das Portal sondern am Ende ihres Lebens in das Portal zu gehen. Von der Portalhüterin zu einem Teil des Portals zu werden, damit es weiter existierte. So, wie es jede Portalhüterin versprach. Wie es jede Portalhüterin tat. Und genau deswegen gingen sie auch nie durch das Portal, traten keine Reise an, denn in anderen Welten lauerten viel zu viele Gefahren. Nicht auszudenken, wenn eine Portalhüterin reiste und nicht zurückkehrte.

Das Papier in ihrer Hand knisterte. Draks. Verflucht, verflucht und verflucht. Porthea seufzte tief. „Was weißt du über die tausend Bibliotheken?“
„Es sind … viele Bibliotheken?“
Wirklich, Draks? Die soll dich retten? Die Schuppen auf Portheas Kopf stellten sich auf. Sie fuhr sich eilig darüber. „Was qualifiziert dich dazu, Draks zu retten?“, knurrte sie sie schließlich.

„Ich bin – sehr entfernt – mit Draks verwandt. Wir, wir haben eine Verbindung.“ Sie rang die Hände und blickte zu Boden. „Wenn ich in derselben Welt bin, kann ich spüren, wo genau Draks ist.“

So lange sie auch auf eine Fortsetzung wartete, es kam nichts mehr. Porthea drückte eine Hand gegen ihre Kopfschuppen, die sich schon wieder aufstellten. Diese Gestaltwandlerin wollte also einfach so in eine Welt spazieren, über die sie nichts wusste, darin herumwandern, bis sie Draks spürte, um dann diesem Gefühl zu folgen, ohne zu wissen, welche Gefahren am Ziel auf sie lauern mochten. „Haben Sie eine Kampfausbildung?“

Die Gestaltwandlerin schüttelte den Kopf.
„Können Sie sich in irgendein gefährliches Wesen verwandeln?“
Die Gestaltwandlerin schüttelte den Kopf.
„Verfügen Sie wenigstens über eine weitere, nützliche Form von Magie?“
Die Gestaltwandlerin schüttelte den Kopf.

Porthea wollte schreien. Sie wollte auf den Tisch einschlagen, ihn entzweischlagen, das Holz splittern und krachen hören. Sie wollte Draks packen und schütteln. Sie wollte die Zeit zurückdrehen und Draks von der verfluchten Reise abhalten. Sie wollte Draks anvertraut haben, was es bedeutete, Portalhüterin zu sein. Sie konnte nichts davon tun. Jetzt half nicht einmal mehr zählen. Porthea schloss die Augen.

Sie würde den Schleier verstärken müssen, damit der niemanden mehr hindurchließ. Sie würde drei tragbare Not-Rückreise-Portale schaffen und mitnehmen müssen. Sie würde dieser Gestaltwandlerin alles über die tausend Bibliotheken erzählen müssen, was sich in der kurzen Zeit der Reise erzählen ließ. Sie würde ihr einschärfen, sich aus Kämpfen herauszuhalten. Sie würden Draks finden. Und zurückbringen. Sie würden alle hierher zurückkommen. Ein andere Option kam nicht in Frage.

Porthea öffnete die Augen. Sie legte den Füllfederhalter an seine Stelle auf dem Tisch. Sie verschloss das Tintenfässchen. Sie schlug sanft das Buch zu. Tasse und Teekanne ließ sie auf dem Tisch stehen. Porthea erhob sich. „Gehen wir“, sagte sie. Und wenn ich nicht zurückkomme, Draks, dann kannst du was erleben. Porthea legte die Hände auf die Baumrinde und konzentrierte sich auf die tausend Bibliotheken. Die Rinde erwärmte sich unter ihren Händen, leuchtete sanft. Porthea zählte stumm bis fünf. Dann öffnete sie das Portal.

… Fortsetzung: Schwüre und Wagnisse

(… die Geschichten meiner Kolleg*innen zum Genre Portal Fantasy könnt ihr hier lesen:
Carola Wolff: Zartbitter & Zimt
C. A. Raaven: Zusammengewürfelt
)