Phantastischer Montag: Die Magie von Portalen

(Da der Juli fünf Montage hat, kommt hier schon der letzte Teil der Portal-Trilogie. Juli ist immer noch der Monat von „Dark Academia“, an diesem fünften Montag mit dem Zusatz: Das magische Klassenzimmer.
Wer zuerst die anderen beiden Teile lesen möchte, startet hier: Die Portalhüterin)

Das Umblättern einer Seite übertönte das Flüstern der Bücher. Porthea zuckte zusammen. Gleichzeitig wisperte Ilana ihr zu: „Hörst du das auch?“
Porthea schluckte und nickte. Ja, sie hörte, wie die Bücher um Hilfe baten. Wie konnte das sein? Und warum blieben alle, die links von ihnen an den Tischen saßen und in die Bücher vertieft waren, so völlig unbeeindruckt davon? Porthea lauschte – die Bücher auf den Tischen waren still. Aber aus den Regalen wisperte es weiter: „Helft uns, bitte, helft uns.“ Vielleicht versteckten sich da welche? Nur, weil sie dort ausschließlich Bücher sah, musste das ja nicht heißen, dass sich niemand sonst dort verbarg. Sie kniff die Augen zusammen und musterte die scheinbar unendlichen Reihen von Büchern, zuckte zusammen, als sie ein Zupfen am Ärmel spürte. Ilana. Die hatte sie kurz ganz vergessen.
Ilana deutete mit dem Kinn auf eine der tiefen Regalschluchten. „Irgendwo dort spüre ich Draks.“
Nun, da blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als sich zwischen die Regale zu begeben. Obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, ging Porthea einen Schritt in die Richtung, in die Ilana gedeutet hatte. Irgendwo hinter ihr quietschte eine Tür. Porthea machte einen Satz zwischen die Regale – entdeckt werden wollte sie hier ganz sicher nicht! Dieser Ort gruselte sie derart, dass ihre Schuppen sich anfühlten, als wären sie mit kleinen Eiskristallen bespickt. Sie schüttelte sich und stieß leicht gegen Ilana, die sich hinter ihr an das Regal presste. Da war sie mit ihrem Gefühl wohl nicht allein. Vorsichtig spähte Porthea in den Raum mit den Tischen.
Vor denen stand jetzt eine Gestalt mit menschlichen Proportionen, in einen langen dunkelblauen Mantel gehüllt. Geschwungene Linien aus einem noch dunkleren Blau bildeten wilde Muster auf dem Stoff, formten immer neue Verbindungen, drehten und wanden sich, wirbelten herum, fuhren wie Blitze über die Ärmel, verschwanden über die Schultern. Das Gesicht blieb unter der weiten Kapuze verborgen.
„Hatten Sie alle Zeit, die Nutzungsbedingungen der Bibliothek gründlich zu studieren?“, fragte die Gestalt mit heller Stimme, die ohne laut zu werden bis tief in die Regalreihen drang. Das Flüstern darin war verstummt, wie Porthea erst jetzt bemerkte.
Alle, die an den Tischen saßen, nickten.
„Gibt es Fragen?“
Zögernd hob eine Rankenfrau eine Hand, wobei die sie umgebenden Blätter und Blüten sanft raschelten. „Spüren die verwandelten Wesen, wenn sie gelesen werden?“
Der Sandmann neben ihr ließ Schlafsand von einer Hand in die andere rieseln und blickte unter langen Wimpern hervor verstohlen zu der Gestalt im langen dunkelblauen Mantel. Die schüttelte den Kopf und beobachtete ihrerseits den hin und her rieselnden Sand. „Es ist, als ob sie schliefen. Sehr tief. Nichts kann sie wecken.“
„Lügen, Lügen, Lügen“, wisperte es aus den Regalreihen rechts und links von Porthea. Sie schluckte. Kamen die Stimmen doch aus den Büchern? Und warum hörten die dort an den Tischen offenbar nichts davon? Porthea klappte die transparente Schutzhaut vor ihre Augen. Sofort sah sie ein blass-blaues Schimmern, das den Ort mit den Tischen wie ein Vorhang von allen Seiten umgab. Ein Schutzschild, das keinerlei Geräusche hineinließ.
Die dunkelblaue Gestalt ging mit langsamen Schritten auf die ersten Tische zu. „Sobald Sie die Nutzungsbedingungen unterschrieben haben, steht es Ihnen frei, die Bibliothek zu erkunden und alles über die hier gesammelten Wesenheiten zu erfahren, wonach Ihnen der Sinn steht.“
Porthea schluckte und schluckte und schluckte. Was sie da hörte, ließ nur einen Schluss zu. Aber der war zu ungeheurlich, um wirklich, wirklich wahr zu sein. Während die dunkelblaue Gestalt weiterredete, wandte Porthea sehr, sehr langsam ihren Kopf den Büchern auf dem Regal zu, an das sie sich drückte. Sie wollte ihren Gedanken nicht bestätigt sehen.
Aber als sie die Bücher ansah, konnte sie den Blick nicht länger vor der Wahrheit verschließen: In der Lebendigen Bibliothek wurden Lebewesen in Bücher verwandelt. Und sie schliefen nicht. Sie waren eindeutig bei Bewusstsein. „Hilf uns“, wisperten sie, „bitte, bitte, hilf uns.“ Und überall um sich herum konnte Porthea sie jetzt sehen: Elfen, Nymphen, Geistwesen, Sylphen, Irrlichter, Vampire, Greife, Zentauren, Harpyien, Undinen, Lindwürmer, Trolle, Chimären – alles Zählen half nicht. Porthea klammerte sich an die Kante eines Regalbretts. Atmen, befahl sie sich, atmen! Sie klappte ihre Augenlider zu, sperrte ihre magische Sicht ebenso wie ihre Weltsicht aus.
„Was ist?“, drängte Ilana hinter ihr.
„Die Bücher“, wisperte Porthea. „Jedes Buch ist lebendig – jedes Buch ist ein Wesen wie du und ich.“ Sie schluckte und atmete und schluckte. „Jedes einzelne von ihnen wurde bei lebendigem Leib in ein Buch verwandelt – und ist jetzt darin gefangen. Bei vollem Bewusstsein. Hörst du ihre Stimmen?“ Sie öffnete die Augen, blickte nicht zu den Büchern, sondern drehte sich mit gesenktem Kopf zu Ilana um. „Wenn auch Draks …“, stieß sie schließlich ihre schlimmste Befürchtung hervor. Sie wollte sich wirklich nicht ausmalen, was Draks hatte durchstehen müssen, wenn – Porthea brach den Gedanken ab. „Wo spürst du Draks?“ Sie hob den Kopf und blickte Ilana an.
Die stand starr und steif da, die Augen weit aufgerissen, den Blick auf die Bücher gerichtet. „Sie – sie sind wirklich – lebendig?“, krächzte sie.
Die Fassungslosigkeit ihrer Begleiterin rüttelte Porthea endgültig aus ihrem eigenen Schock wach. Sie mussten jetzt als allererstes Draks finden. Dann konnten sie sich um alle anderen kümmern. Und sie durfte nicht darüber nachdenken, wie viele andere das waren. Porthea atmete noch einmal tief durch. Noch ein zweites Mal. Und ein drittes, viertes, fünftes. Sie legte die Hände auf Ilanas Schultern, wartete, bis die Gestaltwandlerin aus ihrer Schockstarre kam. „Wo spürst du Draks?“, wiederholte sie leise. Ilana neigte den Kopf zur Seite, als würde sie lauschen. Schließlich drehte sie sich wortlos um und ging weiter zwischen den Regalen entlang. Porthea folgte ihr.
Hoffentlich waren die zukünftigen Bibliotheksnutzenden noch lange mit den Formalitäten beschäftigt.
Hoffentlich hatten sie noch viele Fragen, die die Gestalt im dunkelblauen Mantel davon abhielten, die Bibliothek nach unerwünschten Eindringlingen abzusuchen.
Hoffentlich fanden sie Draks bald.
Hoffentlich in Gestalt eines Drachen.
Porthea stieß gegen Ilana, die vor ihr stehengeblieben war. Sie deutete mit dem Kopf auf das Regal zu ihrer linken Seite, während sie weiter geradeaus starrte. Porthea hätte es ihr am liebsten gleichgetan. Aber eine von ihnen musste hinsehen. Stumm zählte sie bis zehn, dann klappte sie die transparente Schutzhaut vor ihre Augen. Dann wandte sie den Kopf nach links. Draks stand auf dem fünften Regalbrett von unten zwischen einer Nymphe und einem Gargoyle. Porthea weigerte sich, sie als Bücher zu bezeichnen. Ebenso wie sie den Gedanken verweigerte, was Draks und all die anderen empfinden mussten. Immerhin ging es bei Draks nur um Tage – viele der anderen mussten Jahre hier sein. Jahrzehnte. Jahr-, Porthea kniff Ilana unsanft in den Arm. Einerseits, um sie aus ihrer Starre zu reißen, andererseits um ihre eigenen Gedanken abzuschneiden.
„Es ist Draks“, sagte sie knapp.
„Was machen wir jetzt?“, flüsterte Ilana. „Stehlen wir Draks?“
Das wäre eine Möglichkeit. Die einfachste Lösung. Porthea schüttelte den Kopf. „Wir befreien Draks – und alle anderen.“
„Alle? Aber … wie?“
Porthea seufzte. Hier in dieser grausigen Bibliothek konnte sie nicht wütend auf Draks sein. Nicht, solange das Drachenwesen diese Form hatte. Aber sie würde wütend werden. Sobald sie zurück waren. „Draks hatte recht.“ Sie fuhr sich über die Schuppen auf ihrem Kopf. Das beruhigte sie ein wenig. „In dem Brief. Mit der Behauptung, dass nur du Draks retten kannst.“ Und Draks hatte genau das geschrieben, was sie dazu bringen würde, Ilana zu begleiten. Sie würde sich nie wieder mit Reisenden einlassen, schwor sich Porthea. Denn wovon Draks keine Ahnung hatte, war der Preis dieser Magie. Sie wandte dem Regal den Rücken zu. „Nun ja, fast recht – nur wir zusammen können Draks retten. Und ich denke, auch das hat Draks ganz genau gewusst. Ich wette, nur deswegen hat Draks sich überhaupt hierher gewagt – damit wir folgen und verflucht nochmal alle befreien.“
„Worauf warten wir?“
Auf den Mut, dir die Wahrheit zu sagen. Porthea strich sich drei Mal über den Kopf. Vier Mal. „Es ist eine Magie, die wir nur gemeinsam ausführen können. Und – sie hat einen Haken.“
„Was es auch ist …“ Ilana deutete stumm um sich. „Wie könnten wir es nicht tun?“
Es war nicht fair. Niemand sollte diese Entscheidung unter solch einem Druck fällen müssen. Porthea blickte auf all die in Büchern gefangenen Wesen um sie herum und bekam eine Ahnung davon, unter welchem Druck Draks sich entschieden hatte. Manchmal gab es einfach keine guten Wege. „Wer ein Portal hütet, erklärt sich bereit, vor dem Ende des eigenen Lebens, in das Portal zu gehen. Nur so funktionieren die Portale, indem immer wieder lebendige Geschöpfe in sie eintreten und ein Teil von ihnen werden. Ein lebendiger Teil.“ Porthea hob eine Hand, als sie sah, dass Ilana etwas sagen wollte. „Hör mich erst zu Ende an. „Nur wer die eigene Gestalt wandeln kann, kann auch ein Portal hüten. Die erste Prüfung besteht darin, dass wir selbst zu einem Portal verwandelt werden. Die zweite Prüfung besteht darin, dass wir die Fähigkeit abgeben, unsere Gestalt wandeln zu können und uns für eine entscheiden. Die dritte Prüfung besteht darin, uns an das Portal zu binden, dass wir hüten und in das wir schließlich gehen werden. Und vor all dem steht das Versprechen, all diese Prüfungen in dem aufrichtigen Wunsch zu beginnen, sie zu bestehen. Ohne den aufrichtigen Wunsch gelingt es nicht.“ Porthea schwieg. Wartete.
Warum lächelte Ilana sie an? „Das mit dem aufrichtigen Wunsch ist leicht“, sagte sie, und Porthea spürte zum ersten Mal seit sie aufgebrochen waren, so etwas wie Erleichterung.
„Bist du dir ganz sicher?“, fragte sie trotzdem.
Ilana nickte. „Ganz sicher.“ Sie nickte noch einmal. „Aber wie retten wir damit Draks – und all die anderen?“
„Das macht deine erste Prüfung extra herausfordernd. Sobald die – verwandelten Geschöpfe durch ein Portal gehen, bekommen sie ihre ursprüngliche Gestalt zurück. Du wirst das Portal sein. Und ich werde auf dich aufpassen.“ Porthea stoppte und schwieg wieder, gab Ilana Zeit, sich doch noch anders zu entscheiden. Leider gab ihr das auch die Zeit, sich all das auszumalen, was womöglich geschehen konnte. Bestimmt gab es noch mehr dieser dunkelblau gewandeten Gestalten. Bestimmt würden sie die Bibliothek verteidigen wollen. Aber sie war eine voll ausgebildete, erfahrene Portalhüterin. Gegen sie hatten sie keine Chance. „Bereit?“, fragte Porthea.
„Bereit.“

… und hier endet erst einmal die kurze Trilogie um die Portalhüterin Porthea Partella. Der phantastische Montag geht natürlich weiter. 😉