Phantastischer Montag: Vom Suchen und vom Finden

(Wenn du dir die Geschichte lieber vorlesen lässt, einfach ganz nach unten scrollen, da gibt es sie zum Anhören. Viel Vergnügen – ob beim Lesen oder Hören!)

 

Es ist vielleicht ein Märchen. Oder auch eine wahre Geschichte. Vielleicht ist es beides. Das entscheidest du.

Es begann mit Verzweiflung, wird sie sagen, solltest du ihr jemals begegnen. Und wenn du dich dann verwundert umschaust und dich fragst, wie irgendwer an diesem Ort verzweifelt sein kann, wird sie sagen: Ich war ja damals nicht von hier. Und bevor du dich jetzt fragst, wie das sein kann, lass mich von vorn anfangen. Keine Fragen mehr. Keine Unterbrechungen. Hör mir einfach zu.

Und du wirst ihr zuhören. Natürlich. Wie könntest du auch anders?

Ich habe das Rezept gefunden. Ich meine, ich wünschte manchmal immer noch, ich könnte sagen, es wäre ein altes Familienrezept. Aber die Art von Familie waren wir nicht. Also nicht in meiner Ursprungsfamilie. Das Rezept lag in einer Truhe eines Drachenhorts. Ich hatte davon gehört. Und es gehört so weit ins Reich des Raunens und Wisperns, dass es nicht einmal in Märchen und Legenden aufgeschrieben war.

Ich meine, über Drachen gibt es immerhin Erzählungen, ganze Bücher. Auch wenn nur noch wenige von uns an ihre Wahrheit glauben. Ich konnte nicht einmal herausbekommen, welches Gericht dieses Rezept beschrieb. Mal hieß es schlicht eine Süßspeise, dann wieder eine Art fruchtiges Brot — oder auch etwas vollkommen anderes. Nur in der Wirkung waren sich all die gewisperten Gerüchte einig. Und deswegen machte ich mich auf die Suche danach, als ich flüchten musste.

Ich wusste ja ohnehin nicht wohin. Nichts wartete auf mich. Keine Person. Keine Aufgabe. Aber da ich irgendwohin musste, konnte ich auch auf die Suche gehen, sagte ich mir. Was passt schließlich besser zu einer Verstoßenen als eine obskure Suche?

Ich dachte mir, wenn ich auf Fragen nach meiner Herkunft und den Grund meines Umherziehens mit dieser Suche antwortete, werden mir keine weiteren Fragen gestellt. Wer spricht schon gern mit Verrückten? Und ich hatte recht. So musste ich nie meine Geschichte erzählen. So blieb ich für mich.

Nun ja, zumindest eine lange Zeit. Als ich genug Gerüchte, halb gemurmelte Wahrheiten, ausschließlich mündlich bewahrte Erinnerungen gesammelt hatte, um wenigstens eine Idee davon zu haben, in welcher Gegend ich nach dem Rezept suchen musste, änderte sich etwas. Ich begriff zunächst nicht wie. Oder warum.

Aber eines späten Abends irrte ich immer noch auf der Suche nach einem Gasthof mit einem freien Zimmer durch einen Ort, da schloss sich eine Katze mir an. Mal lief sie neben mir her, mal verschwand sie auf ein Dach, dann war sie wieder vor mir und fauchte, wenn ich ihrem eingeschlagenen Weg nicht folgte. Also folgte ich ihr.

Irgendwann bog sie in eine Gasse ein, in der nicht einmal mehr Laternen leuchteten. Alle Fenster waren dunkel. Der Wind schlug uns entgegen, als wollte er uns warnen. Die Katze kümmerte das alles nicht. Sie blieb vor einer Tür stehen. Dem einzigen Haus, an dem ein Licht brannte. Das gelbliche Licht der Laterne fiel auf ein Schild, das sachte im nachlassenden Wind quietschte, während es vor und zurück schaukelte. LA CERISE.

Die Katze blickte zu mir hoch, dann kratzte sie an der Tür. Und ich dachte nur, wo ich schon mal hier bin, kann ich auch nach einem Bett fragen.

Chérie!, rief die Wirtin, als wir eintraten. Die Katze rieb sich an ihren Beinen, schnurrte laut, dann lief sie den Tresen entlang zu einem Teller, der offenbar für sie bereitstand. Ich war ebenso abgeschrieben wie die Wirtin.

Sie hatte ein Zimmer frei. Auf ihre Fragen erzählte ich meine übliche Geschichte in Erwartung eines ungestörten Abends. Aber kaum war ich fertig, sagte sie, da müssen Sie mit Leana sprechen. Sie zeigte auf eine einsame Gestalt am Kamin. Bevor ich ablehnen konnte, schob sie mich auch sogleich dorthin, stellte mich neben dem Kamin ab. Hier ist noch so eine wie du, Leana, sagte sie. Und damit ließ sie uns allein.

Sonst wären wir wohl nie miteinander ins Gespräch geraten. Sonst hätten wir am nächsten Morgen niemals diese Suche gemeinsam fortgesetzt.

Und so erlebte ich, dass eine Suche nicht zwingend einsam machen muss. Als hätte dieser erste Zusammenschluss einen Bann gebrochen, schlossen sich uns bald andere an.

Es war eine schleichende Entwicklung. Ich glaube, wir merkten es anfangs alle nicht. Aber wir begannen, unsere Einsamkeit aufzugeben. Eines Tages merkten wir, dass wir einander vertrauten. Wir vertrauten uns Dinge an. Nicht sofort alles — gerade ich brauchte lange, bis ich von meiner größten Scham erzählte. Dem Grund für meine Suche.

Wenn ich kreierte, was dieses Rezept beschrieb, wenn ich mit meiner Familie davon aß, würde ich vielleicht liebenswert für sie. Vielleicht nähmen sie mich zurück.

Niemand von uns Suchenden verlachte mich deswegen. Wir hatten alle unsere Gründe, waren Verstoßene, Verlassene, Vereinsamte. Wir hatten alle eine Hoffnung. Als wir schließlich gemeinsam dem Drachen Eirèhc gegenübertraten, hatten wir alle unsere Gründe geteilt.

Der Drache war gewaltig. Mit einem Tatzenhieb hätte Eirèhc uns alle zusammen aus seiner Höhle und ins Meer fegen können. Es wäre nicht einmal eine Anstrengung für ihn gewesen. In Eirèhcs Nüstern tanzte Feuerschein. Seine großen Augen glitzerten wie Sonnenstrahlen auf klarem Wasser. Aber alles, was Eirèhc von uns verlangte, war eine Geschichte.

Eine wahre Geschichte, betonte er. Dann könnten wir uns etwas aus all seinen Schätzen aussuchen.

Also erzählten wir ihm davon, wie wir einsam aufgebrochen waren, wie die Suche uns zusammengeführt hatte und schließlich hierher in seine Höhle.

Der Drache seufzte und blickte uns lange an. Wozu braucht ihr noch das Rezept, fragte er schließlich. Wir schwiegen verblüfft. Der Drache schmunzelte. Oh, ihr müsst mir nicht antworten, und ich stehe zu meinem Wort. Mit einer seiner Hintertatzen stemmte er eine Truhe am fernen Ende der Höhle auf. Es liegt da drin. Nehmt es mit, wenn ihr wollt.

Wir sahen einander an. Wir waren so weit gekommen — warum sollten wir so kurz vor dem Ziel aufgeben? Wir nahmen also das Rezept. Der Drache klappte die Truhe wieder zu. Eins noch, sagte Eirèhc, seid so gut und verratet meine Höhle nicht. Und ein Letztes: Kommt gelegentlich wieder und erzählt mir eine neue Geschichte.

Wir versprachen es.

Wir waren ganz aufgeregt, als wir zu unserem Lagerplatz zurückkehrten. Wir lasen das Rezept, wir prägten es uns alle ein, wir lachten, wir planten, was wir jetzt tun, wohin wir nun wieder gehen würden. Der Abend zog herauf. Wir verstummten nach und nach, saßen schweigend um unser Feuer. Manche hatten die Köpfe aneinander gelehnt, manche hielten sich bei den Händen, manche rückten näher zusammen, bis ihre Schultern oder Beine sich berührten. Und am nächsten Morgen traten wir keine getrennten Wege an. Wir kehrten hierher zurück, zu LA CERISE. Die Kirsche, das passte schließlich zu unserem Rezept.

Wie sich herausstellte, freute die Wirtin sich über helfende Hände. Ebenso über die Bäckerei, die wir neben ihrem Gasthof eröffneten. Wir nannten sie LA TARTE. Aber das hast du ja beim Eintreten gesehen.

Am Ende, wird sie dann sagen, haben wir alle das Rezept nicht gebraucht, aber es hat uns zusammengebracht.

Wenn du durch den Ort gehst, wirst du eine Katze sehen, die sie im Gasthof, in der Bäckerei und in der Buchwerkstatt alle Chérie nennen. Sie fühlt sich dort überall zu Hause. Ihre großen Augen glitzern wie Sonnenstrahlen auf klarem Wasser. Und wenn du länger dort verweilst, wirst du hören, dass manche aus dem Dorf ab und an einen Drachen besuchen, um ihm eine Geschichte zu erzählen.

In der Bäckerei wird sie fragen, ob du den Kirschkuchen möchtest oder vielleicht doch lieber etwas, wonach du suchen kannst. Das entscheidest du.

 

Hier gibt es dir Geschichte auch zum Anhören (von mir selbst eingesprochen):

 

(Für den Februar lassen wir uns beim phantastischen Montag vom Song „Cherry Pie“ von Katzenjammer inspirieren. Den Auftakt machte Carola Wolff mit Sugar and Spice And All Things Nice. Christian Raaven hat die zweite Geschichte geschrieben: Schicksal à la Marta. Die dritte ist dann die oben von mir. Und den Abschluss macht Alexa Pukall mit: Zuckersüß
Viel Spaß beim Lesen!