Phantastischer Montag: Auf dem Heimweg

Sie muss daran glauben, dass Nala da ist, wenn sie heimkommt. Alles andere macht keinen Sinn. Oder: Anders macht alles keinen Sinn. Sie wird den Weg zwischen den alten Kastanienbäumen entlanggehen, wenn die weiß-rosa Blüten im Mondlicht glänzen. Der Wind wird sanft sein und doch einige der Blüten von den Zweigen pflücken, sie durch die Luft wirbeln, bis er sie der Schwerkraft nicht länger entreißen kann. Die Blüten werden zu Boden tanzen und ihr Duft wird sie auf dem Heimweg begleiten.

Noch umgibt sie der Geruch von Erschöpfung, lärmen Gelächter und müde-erleichterte Stimmen in ihren Ohren, während Bierkrüge aneinander klirren – wieder und wieder. Der erdige Geruch des Biers legt sich über den metallischen des trocknenden Blutes, den sauren Schweiß des zu langen Kampfs.

Sie haben überlebt. Aber nur gerade so. Sie streicht sich über die glatte Kopfhaut. Wie ungewohnt diese Form noch immer ist. Ein wenig länger noch. Geduld, Geduld, Geduld. Doch die fällt schwer, wenn zu Hause so nahe liegt.

Kira ihr gegenüber hebt den Bierkrug. „Auf unsere Käpt’n, die im Kampf nie müde wird und jetzt aussieht, als würde sie mit offenen Augen schlafen!“ Gutmütiges Gelächter mischt sich in das Klirren der Krüge. Auch sie hebt ihren, zwingt die Mundwinkel nach oben.

Auf ein langes Ausschlafen!“ Sie prostet Kira zu, stößt mit allen an und wünscht sich, sie könnte jetzt endlich, endlich gehen. Aber sie muss bleiben, bis die Letzten sich zum Aufbruch entschließen. So gehört sich das als Käpt’n. So erwarten sie es von ihr. So wie sie auch diese Gestalt von ihr erwarten. Diese Gestalt, die ihr nach all den Tagen und Nächten längst zu eng ist, unter der alles juckt und kribbelt und hinausdrängt, hinaus, hinaus, hinaus.

Aber noch entschließt sich niemand zum Aufbruch. Nur Sinej schwankt leicht vor und zurück. Sorgsam stellt er seinen Bierkrug ab, als bräuchte er dafür seine volle Konzentration. Er löst die Hand vom Krug und sinkt langsam vornüber. Gerade noch kann er die Arme auf dem Tisch verschränken, den Kopf abfedern, der sonst auf die Holzplatte geknallt wäre. Schon heben und senken sich seine Schultern in tiefen Atemzügen. Xia neben ihm schüttelt den Kopf, aber sie macht keinen Versuch, den Schläfer zu wecken.

Und so untermalt Sinejs leises Schnarchen ihren Umtrunk, von dem sich noch immer niemand verabschieden will. Wenn dieses Kribbeln und Jucken, diese Unruhe nicht in ihr wären, würde sie die Gesellschaft sogar genießen. Wenn, wenn, wenn. Wenn du nicht mehr kannst, dann renn, haben sie ihnen als Kindern eingeprägt. Sie reibt sich über die bloßen Unterarme. Die feinen Härchen, die glatte Haut so irritierend wie zuvor. Die Geste bringt keine Beruhigung.

 

Das Zimmer fühlt sich fremd an ohne Wellis. Das Mondlicht streichelt über das Bett mit der nachtblauen Decke, fällt auf den grün-türkisen Flickenteppich davor. Das Bett mag sie ohne Wellis darin nicht berühren. Die Luft im Zimmer schmeckt still. Staubig. Das ganze, an den Berg geschmiegte Haus schweigt ohne sie.

Nala öffnet die Glastüren weit und hebt ihr Gesicht dem Mond entgegen. Sie schließt die Augen und wünscht sich, sie könnte Wellis entgegen fliegen. Aber Wellis wird in ihrer anderen Gestalt hier ankommen. Also verharrt auch sie in ihr. Sie haben sich bei Wellis’ Aufbruch gemeinsam gewandelt und werden sich bei ihrer Rückkehr gemeinsam wandeln. Das ist ihr Versprechen.

Also wird sie auch zurückkommen. Nala setzt sich in die offenen Glastüren und beobachtet, wie der Wind mit den Blüten der Kastanien spielt. Sie glänzen im Mondlicht.

 

Sie träumt sich ein paar Stunden weiter. Dahin, wo der Mondschein sie hält und die Stille zweier atmender Körper ist. Ein schweres Gewicht legt sich um ihre Schultern und die Stille ist fort. Zine hat ihren muskulösen Arm um sie gelegt und Ulle tut links neben ihr das Gleiche.

Na los, Käpt’n, sing mit!“

Offenbar singen sie schon eine Weile, denn sie sind bereits bei der fünften Strophe. Alle haben die Arme umeinander geschlungen, alle wiegen sich im Takt – sogar Sinej ist wieder wach und stimmt lauthals den Refrain an:

Droht dir Gefahr in der Nacht,
Ruf die Dunkle Wacht,
Denn wir sind wild wie der Wind,
Und wir schützen jedes Kind.

Sie liebt diese Zeilen, seit sie die Worte zum ersten Mal gehört hat. Jedes Kind. Doch heute ist sie älter und weiß es besser. Trotzdem singt sie mit. Auch wenn ihr Mund nach Asche schmeckt. Die nächste Strophe zwingt sie durch die staubig-raue Trockenheit und ist froh, als die Wirtin plötzlich ein Tablett mit vollen Bierkrügen auf den Tisch knallt.

Letzte Runde“, verkündet sie in den verstummenden Gesang. „Ich bin froh, dass ihr meinen Gasthof von den Dämonen befreit habt, aber irgendwann muss ich auch mal schlafen. Und ihr seht auch nicht mehr frisch aus.“

Sie nehmen das Bier, ohne zu murren. Schließlich hat die Wirtin recht. Der Kampf hat länger gedauert, als er sollte. Sie waren auf einen letzten gemeinsamen Abend eingestellt gewesen, bevor sie alle ihrer getrennten Wege zogen — nicht auf noch einen Kampf. Sie sollte längst zu Hause sein. Sie kratzt sich die Handgelenke, was nicht hilft. Also zwingt sie die Finger um den Henkel des Bierkrugs. Nur noch ein paar Schluck, dann werden die Ersten aufbrechen. Nicht mehr lang jetzt, nicht mehr lang.

Es ist viel zu still um sie herum. Wellis blickt auf.

Nur Sinej erwidert ihren Blick. „Wir wissen, dass —“

Kira stößt ihm einen Ellbogen in die Seite. „Wir müssen etwas mit dir besprechen, Käpt’n.“ Sie schiebt ihren Stuhl zurück. „Draußen.“

Plötzlich ist der ganze Raum erfüllt von Stuhlbeinen, die über Holzdielen scharren. Alle stehen — nur sie sitzt, klammert sich so fest an ihren Bierkrug, dass ihre Finger schmerzen. Wie hat sie sich verraten? Die Frage hat keinen Sinn. Nicht jetzt. Jetzt muss sie rennen. Nur dass das auch keinen Sinn hat. Wellis zwingt sich, die Finger von dem Bierkrug zu lösen. Zwingt sich, ganz ruhig aufzustehen. Ihr ist kalt wie einem in Eisenketten gelegten Dämon. Aber sie zittert nicht. Sie ist kein Dämon. Auch wenn die Welt das anders sieht. Auch wenn die Wacht das anders sieht.

Wellis sieht sie schaut an, als sie, von ihnen umringt, auf die Tür zugeht. Wenige Stunden zuvor haben sie Seite an Seite mit ihr gekämpft. Sie hat Ulle das Leben gerettet und Zine davor bewahrt, einen Fuß zu verlieren. Kira hat einen der Dämonen getötet, bevor der sich in ihren Arm verbeißen konnte. Sinej und Xia haben mit ihr die magische Barriere aufgebaut, die sie alle vor dem letzten Fluch des letzten Dämons bewahrt hat.

Renn! Flieh! Flieg!, überschreit ein ganzer Chor ihre Gedanken, schreit gegen ihre langsamen Schritte an, mit denen sie sich der Tür nähert. Vielleicht hat sie draußen eine Chance. Wenn es ihr gelingt zu entkommen, darf sie nicht aufhören zu rennen. Sie muss alles hinter sich lassen. Das an den Berg geschmiegte Haus mit der Höhle dahinter, die weit in den Fels reicht. Nala. Wellis hebt den Kopf ein wenig höher. Sie kann Nala nur schützen, wenn sie ohne Abschied flieht. Nala und alle, die in der Höhle hinter dem Haus ihre Zuflucht gefunden haben.

Wellis geht an Kira vorbei, die die Tür aufhält. Das Mondlicht fällt auf die Pfützen vor dem Gasthof, lässt das dunkle Wasser glitzern. Der Wind knarrt und rauscht durch die Zweige der Bäume. Sonst ist es still. Alle haben sich längst in ihre Häuser zurückgezogen und die Lichter gelöscht. Die Tür des Gasthofs klickt leise ins Schloss. Der Schlüssel klackert darin, wird zwei Mal herumgedreht. Kiras Stiefel knallen auf die Pflastersteine.

Jetzt muss sie rennen. Doch Wellis kann sich nicht rühren. Sie steht da, umrundet von ihrer Truppe, festgefroren in der Stille, die auf Kiras letzten Schritt folgt.

 

Es dauert zu lang. Nala geht zwischen den offenen Türen auf und ab. Warten, warten, warten — sie hasst warten. Ihr ist, als würde der Mond sie verlachen. Was weiß der schon! Nala bleibt stehen und starrt den Weg zwischen den Kastanienbäumen entlang, als könnte ihr Starren allein die vertraute Gestalt dort auftauchen lassen. Stumm verflucht sie Wellis und ihre Sturheit, mit der sie an der Dunklen Wacht festhält.

Es ist unser Land, genauso wie ihres, Nala. Wir haben ein Recht, es zu schützen. Gemeinsam.
Nur, dass sie dich töten werden, wenn sie wissen, wer du bist. Wer wir sind.
Wir sind keine Dämonen, Nala. Irgendwann werden sie das begreifen.

Das ist der Punkt, an dem Nala den Streit jedes Mal aufgibt. Sie wird Wellis nicht von ihrem Irrtum überzeugen können. Genauso wenig wie Wellis sie von ihrer Hoffnung überzeugen kann. Nala wischt sich über die Augen, die vom Starren tränen. Doch sie starrt weiter. Der Mond kann lachen, so viel er will, in der Luft hat sich etwas verändert. Der Wind reißt an den Zweigen, als wollte er sie zum Schreien bringen.

 

Es ist Kira, die es ausspricht. Leise. Als fürchte selbst sie sich vor den Worten. „Wir wissen es, Wellis.“

Wellis. Nicht Käpt’n. Ihr eigener Name trifft sie wie ein Schlag mit der Eisenkette. Aber sie hält sich aufrecht. Noch hat niemand eine Waffe gezogen. Oder gefordert, dass sie ihre ablegt. Wellis lauscht auf den stärker werdenden Wind. Vielleicht. Unter ihrer Haut brodelt es jetzt. Wenn sie sich schnell genug wandelt, kann sie hoch oben am Himmel sein, außer Reichweite für jede Waffe, jede Magie, sich dem Wind anvertrauen, der sie forttragen wird, sie ihnen entreißen, bevor —

Wenn, wenn, wenn. Sie weiß genau, wie schnell sie sind. Hat sie trainiert, herausgefordert, Seite an Seite mit ihnen gekämpft. Flucht ist nur ein Traum. Wie Hoffnung. Nala hat recht gehabt. Verzeih mir. Der Wind reißt ihre Gedanken mit sich.

Sie will noch immer nicht gegen sie kämpfen. Wie kann sie diejenigen töten, mit denen sie so lange alles geteilt hat? Fast alles, flüstert Nalas Stimme in ihrem Inneren. Und das Flüstern durchbricht Wellis’ Starre. Wenn das ihre letzten Augenblicke sind, wird sie ihnen wenigstens in ihrer wahren Gestalt begegnen. Wellis schließt die Augen und lässt ihr inneres Brodeln in Flammen umschlagen.

Gebt ihr mehr Raum“, hört sie Kira durch das Brüllen des Feuers. Doch der Wandel ergreift von ihr Besitz, sie hat keine Zeit, sich über die Worte zu wundern. Sie streckt sich, schmiedet ihre Schuppen neu in der Hitze der Flammen, formt ihre Flügel aus dem Wind, trinkt das Mondlicht und den Glanz der Sterne, genießt die kühle Luft auf ihren nachtblauen Flanken. Ein tiefer Atemzug. Wellis schlägt die Augen auf.

Sie haben sich alle hinter Kira zurückgezogen. Die steht hoch aufgerichtet da. Hat noch immer keine Waffe in der Hand. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Und darin liegt — keine Furcht. Aber auch keine Verachtung. Der Wind ist nur noch ein Wispern. Sie könnte ihn mit wenigen Flügelschlägen neu entfachen. Die Flucht wenigstens versuchen. Wellis streckt zögernd die Flügel. Und stoppt. Vor ihr sinkt Kira auf die Knie. Und hinter ihr folgen die anderen. Ihre Waffen klirren leise, als Metall auf Pflasterstein trifft.

Kira wendet ihre leeren Handflächen nach oben. „Verzeih, Wellis. Käpt’n. Ich hätte das anders anfangen müssen. Wir wissen, dass du kein Dämon bist. Du bist eine von uns.“

Wellis ist, als schwanke die Welt. Ist das eine List? Sollen die Worte sie in Sicherheit wiegen, während sie von anderen umstellt wird? Haben sie das alles geplant? Haben sie drinnen mit ihr getrunken, während hier draußen längst die Verstärkung im Hinterhalt gelauert hat? Aber sie spürt keine anderen Wesen in ihrer Nähe, bis auf die, die vor ihr knien.

Bitte.“ Sinej senkt den Kopf. „Lass uns weiter an deiner Seite sein. Lass uns mit dir kämpfen, bis alle verstehen, was wir längst wissen.“

Xia lehnt sich vor, so langsam, dass Wellis darüber lachen würde, wenn die Vorsicht ihr nicht noch immer die Kehle verschlösse. „Käpt’n.“ Xias Stimme klingt laut und sicher durch die Nacht. „Wir brauchen dich.“

Ulle und Zine, die beide nie viele Worte machen, nicken. Zine stößt Ulle an, und Ulle stößt zurück. Zine gibt sich nicht geschlagen und wäre alles wie sonst, würde Wellis jetzt dazwischen gehen, die beiden Geschwister auf Abstand halten, sie schelten, weil das hier kein Spiel ist sondern Ernst. Aber sie weiß noch immer nicht, wem sie glauben darf — den Worten oder der Furcht. Ulle packt Zines Arm. „Stopp mal.“

Zine verdreht die Augen. Aber stoppt. Ulle seufzt so tief, als müsse sie den Atem dafür vom Grund ihrer Seele holen. „Niemand von uns will dich töten, Käpt’n. Weder dich noch andere wie dich. Wir wollen nur, dass du weißt, dass wir wissen, wer du bist und an deiner Seite sein wollen.“ Ulle gestikuliert so wild, dass Zine ins Schwanken gerät. „Ich meine, wir wissen es schon eine Weile und niemand ist schreiend weggerannt.“

Oder hat dich verraten.“ Zine befreit ihren Arm aus Ulles Griff. „Wir stehen an deiner Seite, Käpt’n.“ Sie verzieht den Mund. „Das heißt, wenn wir jetzt wieder aufstehen dürfen?“

Ich weiß gar nicht, ob ich das noch kann.“ Ulle stützt einen Arm ins Kreuz und stöhnt.

Kira grinst. „Wer hat euch denn Plapperwasser ins Bier gekippt?“ Sie blickt zu Wellis. „Käpt’n? Sagst du auch was?“

Die Hoffnung zupft an dem Seil um ihre Kehle. Wellis setzt eine Tatze nach vorn. Niemand von ihrer Truppe weicht zurück. Sie geht langsam auf sie zu. Der Wind streichelt über ihre Flügel. Sie streckt sie unter den sanften Berührungen weit aus. Noch immer knien sie still vor ihr. Kira, Sinej, Xia, Ulle, Zine. Wellis umspannt sie mit ihren Flügeln. „Hoch mit euch“, sagt sie leise und blinzelt ihnen zu, als sie vor ihr stehen. „Aber glaubt jetzt bloß nicht, dass ich euch nach Hause fliege. Ich bin eure Käpt’n, nicht euer fliegender Untersatz.“

Kira lacht als Erste los und steckt sie alle an. Wie immer. Wellis öffnet die Flügel und entlässt ihr frohes Gelächter in die Nacht.

 

Nala runzelt die Stirn und saugt die Luft tief in sich ein. Etwas hat sich verändert. Es ist der Wind. Er klingt — froh.

 

(Für den März lassen wir uns beim phantastischen Montag von dem Song „Come To My Window“ von Melissa Etheridge inspirieren. Den Anfang hat Carola Wolff gemacht mit Love Fantastic. C. A. Raaven folgte mit Was es ist. Am dritten Montag habe wie immer ich die Ehre, siehe oben. Und am vierten Montag vom März folgt Alexa Pukall mit Das Haus des Magiers. Gutes Lesevergnügen!)