Phantastischer Montag: Unvorstellbar

Stell es dir vor, und es wird passieren. Von wegen! Wenn Magie wirklich so einfach wäre, würden alle sie beherrschen. Eins war klar, sie würde das mit der Magie niemals hinbekommen. Und deswegen hockte sie auf immer hier fest in dieser verfluchten Welt. Aufgabe verbockt. Heimweg versagt.

Andra starrte auf die Stadt unter ihr. Die Lichter der Straßenlaternen brachten die Regentropfen zum Funkeln und ließen das Gold der Statue glänzen, auf deren linkem Flügel sie saß und mit den Beinen baumelte. Die Höhe machte ihr nichts aus, und der Regen passte zu ihrer Stimmung.

Der Rat hätte sie auch einfach nur verbannen können. Eine Zeitspanne festsetzen und sie fortschicken. Selbst hundert Jahre wären leichter als das hier. Dann hätte ihre Sehnsucht ein konkretes Ende gehabt. Aber nein, sie mussten sie mit einer doppelten Strafe belegen, Verbannung gepaart mit einer Aufgabe. Einer Aufgabe, die ihr Hoffnung gegeben hatte. Denn sicher würde der Rat sie nicht mit etwas Unlösbarem wegschicken. Rette die andere Welt und dir ist vergeben. Rette die andere Welt und du darfst zurückkehren.

Zurückkehren. Das Wort allein hatte sie durch die ersten zehn Jahre in dieser fremden Welt gebracht. Jetzt, nach ein paar weiteren Jahrzehnten, brachte es sie nur noch zur Verzweiflung. Das raue Krächzen einiger Krähen unterstrich ihre trüben Gedanken. Andra kniff die Augen zusammen und blickte den grau-schwarzen Vögeln hinterher, die über den Bäumen des Parks kreisten und krächzten. Sie würde nicht hier sitzen und im Regen heulen. Das war zu pathetisch. Andra zog die Füße hoch auf die schmale obere Kante des Flügels und stand auf, streckte die Arme weit zu beiden Seiten aus. Legte den Kopf zurück. Sog die regenfeuchte Luft ein. Schon besser.

Sicher, sie konnte mit jedem Atemzug das Sterben dieser Welt spüren. Aber da war auch der Regen, der auf ihrer Haut kitzelte, das zufriedene Summen der Bäume, die das Nass aufsaugten, ihren Gesang über das Rauschen des Verkehrs legten. Zumindest für ihre Ohren. Andra streckte sich und blinzelte nach unten, überlegte, ob sie es wagen konnte, sich zu wandeln.

Hallo? Bitte, ich will Sie nicht erschrecken“, klang eine Stimme leise zu ihr hinauf. „Bitte, springen Sie nicht.“

Andra seufzte. Wer kam außer ihr mitten in der Nacht hierher? Der Zugang unten war doch sicherlich versperrt. „Keine Sorge, hab ich nicht vor“, erwiderte sie. Und selbst wenn – sie würde nicht fallen. Das war der Vorteil davon, in Drachengestalt Flügel zu haben. Aber das konnte sie nicht sagen. Andra setzte sich wieder hin – langsam, um wen auch immer da unten nicht weiter zu verschrecken.

Wie sind Sie da überhaupt hoch gekommen?“

Jetzt konnte Andra eine Gestalt auf der Aussichtsplattform erkennen. Sie hielt mit einer Hand die Kapuze eines langen dunklen Mantels fest, während sie zu ihr hinauf sah. Andra fluchte still vor sich hin. Sie hatte einfach nur im Regen hocken und melancholisch über die Stadt starren wollen. Zu ihrer Vorstellung dieser Nacht gehörten weder eine Zufallsbegegnung noch unangenehme Fragen. Sie zwang sich zu einem Lachen. „Würden Sie mir glauben, wenn ich sage, mich hat ein Hubschrauber hier abgesetzt?“

Die Gestalt unten zuckte mit den Schultern. „Holt der Sie auch wieder ab?“

Andra blinzelte in den Nachthimmel. „Sieht nicht so aus.“ Ihr musste dringend etwas einfallen, um diese Person loszuwerden. Sie betrachtete das faltenreiche Gewand der goldenen Statue. „Ich bin ganz gut im Klettern.“ Zumindest wenn sie ihre Krallen ausfuhr. Würde allerdings Spuren im Gold hinterlassen.

Soll ich nicht doch lieber Hilfe holen?“

Das fehlte gerade noch! Menschen neigten zu übertriebener Aufregung in solchen Situationen. Rettungswagen, Polizei, unerträglich laute Sirenen. Womöglich bestünden sie darauf, sie zu untersuchen – Andra schauderte schon bei der Vorstellung. Sie wollte gar nicht erfahren, was Menschen mit ihren Methoden alles über sie herausfinden konnten und vor allem nicht, was sie nach diesen Erkenntnissen mit ihr tun würden. „Ich fühl mich hier oben sehr wohl“, rief sie nach unten und hoffte, ihr Lächeln wirkte überzeugend.

Die Gestalt unter ihr rührte sich nicht vom Fleck. Sah still zu ihr hinauf. In ihrem gemeinsamen Schweigen klang der Regen lauter als zuvor. Andra versuchte, sich die Gestalt auf der Aussichtsplattform weg-vorzustellen. Stell es dir vor, und es wird passieren. Sie biss die Zähne zusammen, fixierte die Gestalt in ihrem dunklen Mantel. Du bist nicht hier. Du bist nicht hier. Du bist nicht hier, wiederholte sie stetig in Gedanken. Natürlich löste die Gestalt sich nicht in Luft auf. Stattdessen räusperte sie sich, schlug die Kapuze zurück und strich sich über stoppelkurze schwarze Haare.

Ich kann Sie nicht einfach so allein lassen.“

War ja klar, dass sie ausgerechnet jetzt einem mitfühlenden Menschen begegnen musste. Andra schloss die Augen. In ihrer Zeit hier hatte sie gleichgültige Menschen erlebt, wütende, abweisende, überhebliche, missmutige – kurz alles, was sie erwartet hatte in einer Welt, die vor sich hinstarb. Aber jetzt stand hier eine offensichtlich mitfühlende Seele und zerrte an ihren Nerven.

Hören Sie, können Sie mir etwas versprechen?“, übertönte die Stimme von unten den Regen.

Widerwillig öffnete Andra die Augen. „Kommt ganz darauf an, was“, grummelte sie. Bei allen Himmeln, das entwickelte sich zu dem längsten Gespräch, das sie je mit einem Menschen geführt hatte.

Versprechen Sie mir nur, nicht vor Schreck runterzufallen, egal, was Sie gleich sehen.“

Solange keine Sirenen, Polizei oder Rettungswagen involviert sind?“

Versprochen.“

Also gut, ich verspreche es.“ Andra ließ die Unbekannte nicht aus den Augen. Sie war sich inzwischen ziemlich sicher, dass sie eine Frau war. „Legen Sie los.“ Vielleicht würde sie danach endlich verschwinden. Jedenfalls würde nichts, was die Unbekannte tat, sie von ihrem Platz hier oben weglocken.

Die schob einen Ärmel ihres Mantels zurück und umfasste ihr Handgelenk. Im nächsten Moment löste sie sich zu einem wirbelnden Nebel auf. Andra starrte. Sie beugte sich vor, bis sie fast die Balance verlor. Sie hieb ihre Krallen in den Goldflügel und fing sich. War das – hatte sie – hatte sie gerade Magie gewirkt? War die Unbekannte wirklich verschwunden? Andra riss den Mund auf, weil sie nicht genug Luft bekam. Sie verschluckte sich. Hustete. Sie flog ohne zu fliegen. Sie klammerte sich an dem metallenen Flügel fest. Sie blinzelte. Der Nebel war fort.

Ein Flattern ließ sie zusammenschrecken. War die Statue lebendig geworden? Aber der Flügel, auf dem sie saß, war immer noch starr und fest. Vorsichtig blickte Andra zur Seite. Neben ihr landete eine Krähe, hüpfte ein paar Mal auf und ab, flatterte noch einmal mit den Flügeln. Krächzte. Andra grinste sie an. Wollte ihr von dem Wunder erzählen, das sich gerade ereignet hatte, brachte aber nicht als ein Krächzen heraus. Ein heiseres Lachen schüttelte sie.

Und dann kam der Nebel zurück, hüllte die Krähe ein, drehte und wand sich, wirbelte in grau-weiß-schwarzen Schwaden herum, bis Andra ganz schwindelig davon wurde. Sie klammerte sich an den goldenen Flügel. Machte die Magie sich selbständig? Musste sie ab sofort aufpassen, was oder wen sie anschaute? War ihr Blick magisch geworden?

Wie zuvor verschwand der Nebel genauso plötzlich, wie er gekommen war. Anstelle der Krähe saß die Unbekannte in ihrem dunklen Mantel neben ihr.

Wirklich eine schöne Aussicht von hier oben“, sagte sie. „Hätte ich schon längst mal machen sollen.“ Sie ließ die Beine neben Andras baumeln. „Ich bin übrigens Elyf.“

Andra.“ Ihre Stimme klang heiser. Sie saß zwar immer noch, aber innerlich fiel sie. Stürzte. Zitterte wie ihre Stimme. „Dann war das nicht meine Magie.“

Nein, das war meine.“ Elyf zwinkerte ihr zu. „Aber das scheint dich irgendwie zu enttäuschen? Ich meine, ich habe Schock erwartet, aber …“

Andra verkrampfte die Hände zu Fäusten. „Gestaltwandlung ist nicht gerade Magie.“

Nicht? Ich weiß ja nicht, wo du herkommst, aber in meinen Kreisen nennen wir das Magie.“ Elyf zuckte mit den Schultern.

Dann kommst du auch nicht von hier?“ Die Worte waren heraus, bevor Andra sich zusammenreißen und sie hinunterschlucken konnte.

Auch nicht?“

Andra verfluchte sich. Sie hatte sich von der Hoffnung völlig den Verstand und jede Kontrolle rauben lassen. „Vergiss es“, murmelte sie und versank wieder in Schweigen.

Elyf stieß sie leicht an. „Du musst mir deine Geheimnisse nicht verraten. Ehrlich. Ich würde dich nur bitten, meins für dich zu behalten. Ich meine, nicht dass irgendein Mensch dir glauben würde. Eher würden sie dich für verrückt halten. Und das könnte dich in jede Menge Schwierigkeiten bringen. Und wer braucht das schon?“

Ich nicht.“ Andras Kopf fühlte sich zu schwer an, um ihn zu heben. Elyf redete schon wieder weiter, aber sie hörte ihr nicht länger zu. Irgendetwas hatte sie gesagt, etwas wie – „In deinen Kreisen? Heißt das, du bist nicht – nicht allein?“

Ich wohne in einem ganzen Haus voll mit meinen Schwestern.“ Elyf lächelte. „Ich könnte dich dahin mitnehmen. Aber dafür müssten wir hier runter.“

Sind sie dort alle wie du?“

Elyf nickte. „Ein Haus voller Krähen.“

Und -“ Andra schluckte, weil sie nicht hoffen wollte. „Und kennt ihr euch mit Magie aus?“

Dieses Mal brauchte Elyf länger für eine Antwort. Sie knabberte an ihrer Unterlippe, kratzte sich an der linken Augenbraue. „Ich weiß es nicht. Ich bin noch nicht solange dabei. Also, vielleicht?“

Das war genug, beschloss Andra. Für den Moment war das genug. „Dann los!“ Sie sprang auf und warf sich ohne jedes Zögern in die Luft. Hinter ihr ertönte ein Schrei, der abrupt verstummte, als Andra ihre Drachenflügel ausbreitete und sich hoch hinauf in den Nachthimmel schwang. Gleich darauf flog eine Krähe neben ihr. Vielleicht. Andra erlaubte sich einen Anflug von Hoffnung.

(Auch 2022 geht es weiter mit dem phantastischen Montag! Dieses Jahr lassen wir uns von Zitaten aus dem phantastischen Genre inspirieren – im Janaur von N.K. Jemisin mit „If you can imagine something, it will be.“ Die weiteren Geschichten findet ihr bei Carola Wolff Imagine und C.A. Raaven Schönheitswettbewerb. Viel Spaß beim Lesen!)