Phantastischer Montag: Der Gesang der Bäume

Der Gesang stockte. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber jetzt, da sie das Stocken vernommen hatte, konnte sie es nicht länger ignorieren.

Oder doch?

Es war eine furchtbare Idee, die sich wunderbar anfühlte. Wenn sie sich für den Rest aller Zeit in dieser Idee verkriechen könnte, sich an sie schmiegen wie an Elyfs Körper und alles um sie beide herum vergessen, wie sie es seit diesem ersten Kuss getan hatten, dann könnte sie die Zeit selbst ignorieren und alles, wozu sie drängte. Es war verlockend. Und ein wenig Zeit blieb ihnen sicher noch. Andra drückte ihr Gesicht an Elyfs Halsbeuge. Einfach die Augen schließen und alle Gedanken verscheuchen.

Doch das war leichter gedacht als getan, jetzt, wo sie angefangen hatte, wieder etwas vom Außen zu spüren. Und das, was sie spürte, sagte deutlich: Wenn du dir zu viel Zeit lässt, stirbst du. Und mit dir diese Welt. Und mit dieser Welt stirbt Elyf.

Durch das offene Fenster drang der Gesang der Bäume, ein beruhigendes Summen, das zu dieser Welt gehörte, wie Flügel, Schuppen und Krallen zu Andras Drachengestalt. Ebenso vertraut wie unersetzlich. Andra drückte sich mit der vollen Länge ihrer Menschengestalt an Elyf, meinte die Krähenfedern unter Elyfs Haut zu spüren, weich und stark zugleich.

Sie hätte sich nicht auf sie einlassen dürfen. Jetzt lag ihr etwas an dieser Welt. In der Dunkelheit von Elyfs Halsbeuge erlaubte Andra sich ein leises Seufzen. Nur ein wenig länger noch hier verharren.

Das nächsten Stocken des Gesangs ließ sie frösteln, als ginge ein feiner Eisregen auf ihre von Drachenschuppen ungeschützte Haut nieder. In diesem stummen Bruchteil einer Sekunde sah sie es deutlich vor sich: Alle Bäume erstarrten. Kein Ast rührte sich im Wind, kein Blatt zitterte, und auch die Vögel verstummten. Zu kurz für die menschliche Wahrnehmung und schmerzhaft deutlich für ihre Drachensinne.

Die Bäume setzten ihren Gesang fort und gleichzeitig hob Elyf den Kopf. „Was ist?“ Sie strich mit federleichten Händen über Andras Schultern.

Nichts, hätte Andra zu gern geantwortet. Vielleicht wäre das sogar die beste Antwort. Sie war mit ihrer Suche nach der Magie kein Stück vorangekommen, die Welt würde also ohnehin sterben. Und das nicht einmal sofort. Sicher, nach Drachenmaßstäben schon, aber Drachen lebten so viel länger als – nein, auch daran wollte sie nicht denken. Sie zwang sich zu einem Lächeln und strich Elyf über die kurzen dunklen Haare. Doch die schlang ihre Finger um Andras Handgelenk, stoppte ihre Bewegung.

Elyf zog Andras Hand an ihre Lippen und küsste ihre Finger, einen nach dem anderen. Nach jedem Kuss sah sie ihrer Drachenfreundin in die Augen, lauerte auf den abwesenden Ausdruck darin, der so schnell kam und ging, dass Elyf unsicher war, ob sie ihn gesehen oder sich eingebildet hatte. Sie wand ihre Finger um Andras und legte ihre beiden Hände auf ihre Brust, wandte den Blick keinen Moment lang von ihr ab. Rede mit mir, dachte sie stumm. Denn dass es nichts brachte, einen Drachen zu drängen, hatte sie längst gelernt. Andra konnte länger schweigen als jedes andere Wesen, das sie kannte.

Auch jetzt sagte sie kein Wort, löste nur langsam ihre Finger von Elyfs, schloss die grün-glitzernden Augen. Obwohl sie noch dicht neben ihr lag, schien Andra weit, weit fort, und die Entfernung zwischen ihnen breitete sich schneller aus als ein Donnerhall. Ein schweigender Donner, der sich wie eine steinschwere Decke auf sie legte. So sehr Elyf sich danach sehnte, die Starre abzustreifen, sie konnte nicht einmal einen ihrer kleinen Finger bewegen.

Andra hingegen hob langsam den Kopf, drehte sich von ihr fort, ihre Hände schon geschuppte Tatzen, ihre Wandlung zum Drachen vollendet, als sie ihre Drehung vollendete. Ihre Drachengestalt funkelte wie Sterne in tiefdunkler Nacht. Elyf wollte die Hände nach ihr ausstrecken, doch die Stille lastete noch immer auf ihr, hinderte sie an jeder Bewegung. Drachenatem strich über ihre Schläfen wie sanfte Küsse. Andra blickte sie aus ihren Drachenaugen an – auch sie waren grün: zart-blatt-smaragd-schimmernd-sonnendurchdrungen-wasserlilien-grün-leuchtend.

Wieder strich der Drachenatem über ihre Schläfen – kühl wie die letzte Nacht des Sommers vor dem Herbst. Elyf wollte den Kopf schütteln, ihre Handflächen den Drachenkrallen anbieten, wollte spüren, wie sie sich in ihre weiche Haut gruben – alles wäre besser als dieses Gefühl von Abschied. Sie wollte aufspringen, Andras Flügel umschlingen, sie fest an Andras Körper pressen, damit sie sie nicht ausbreiten konnte. Doch noch immer deckte das Schweigen Elyf steinschwer zu. Und Andra wandte ihren zart-blatt-smaragd-schimmernd-sonnendurchdrungen-wasserlilien-grün-leuchtenden Blick von ihr ab, drehte erst ihren Kopf, dann ihren ganzen Körper von ihr fort, sprang vom Bett zum Fenster, blickte sich nicht noch einmal um, drückte sich mit den Tatzen vom Fensterbrett ab, sprang, sprang und breitete die Flügel weit aus, sprang und flog, schwang sich hinauf in den Nachthimmel, verschmolz mit Sternen und Dunkelheit.

Nur das Schweigen ließ sie zurück. Und Elyf lag in der Steinschwere, bis die Nacht noch tiefer wurde, bis die Vögel aufhörten zu singen, bis das erste Licht heraufdämmerte und die Stimmen der Vögel erwachten, bis die Sonne das letzte Grau vertrieb und sich auch zum Fenster hereinstahl, die Steinschwere hinwegwärmte. Elyf blinzelte. Sie zuckte und schüttelte sich. Das Morgenlicht stach ihr in den Augen. Sie setzte sich auf und starrte in das helle Blau.

Irgendwo dort draußen war ihre Drachenfreundin. Elyf berührte das Tattoo an ihrem Handgelenk. Schon griff der Wandel nach ihr, wirbelte sie herum, bog und formte sie neu, ließ ihre Federn sprießen. Sie hockte auf dem Fensterbrett, krächzte das helle Blau an, spreizte ihre Flügel. Irgendwo hier draußen war ihre Drachenfreundin, und sie würde sie finden. Elyf stieß sich ab, flog dem Blau entgegen.

Unter ihr rauschten die Bäume, ein grünes Blättermeer im Wind. Fast schon ein Gesang, dachte Elyf, während sie höher und höher flog und der Gesang leiser und leiser wurde.

 

… ist unser Zitat für die phantastischen Geschichten im Mai. Was die Kolleg*innen daraus gemacht haben, könnt ihr hier lesen:

Wonderland 2.0 von Carola Wolff
Bevor es zu spät ist von C. A. Raaven