phantastischer Montag: Worte, in den Wind geflüstert

Andra grub die Krallen tiefer in die Erde. Von weit her konnte sie die Hitze der Lava im Erdinneren spüren. Sehr weit her. Sie wollte sich darin vergraben, alle Erinnerungen an ihre Tat, an ihre Verbannung, all die Last dieser Welt von ihren Schuppen brennen lassen – aber damit würde sie auch Elyf im Stich lassen. Und das hielt sie zurück. Andra senkte die Schnauze auf ihre Tatzen, sah aus ihrem Versteck heraus zu, wie die letzten Menschen die kleine Insel verließen, wie sich die Dunkelheit über das Wasser senkte. Endlich allein.

Sie streckte sich lang aus. Alles auf Anfang, nur schlimmer, dachte Andra. Ja, sie wusste jetzt, wie sie an das Wissen um die Magie in dieser Welt käme. Doch sie wusste auch, dass sie den Preis dafür nicht zahlen wollte. Auch wenn die Verlockung noch so groß war, die Rückkehr in ihre Welt so nah, sie würde dafür weder Elyf noch eine andere Krähenschwester opfern. Schauder liefen ihr über den Rücken, jedes Mal, wenn sie an die lebendige Bibliothek dachte. All diese Regale voller Bücher, die einmal lebendige Wesen gewesen waren, die immer noch lebten, aber den Büchern, in die sie gezwungen worden waren, nicht entfliehen konnten. Nein, dazu würde sie niemanden verdammen!

Irgendwo in der Dunkelheit schrie ein Pfau, und Andra wünschte sich, sie könnte den Wutschrei, den die Erinnerungen an die Bibliothek entzündete, ausstoßen. Doch das wäre ein Schrei, wie ihn nie zuvor jemand in dieser Welt gehört hatte. Und hören würden sie ihn. Andra presste ihre Schnauze fester auf die Vordertatzen. Sie durfte keine Entdeckung riskieren.

Sie brauchte einen neuen Plan. Andra starrte über das dunkle Wasser, auf die Lichter der anderen Uferseite, die sich darin spiegelten. Stell es dir vor, und es wird passieren, hallten die Worte des Rats durch ihren Kopf. Andra schloss die Augen. Magie. Wie sollte sie sich Magie vorstellen? Statt brauchbarer Antworten stiegen Erinnerungen in ihr hoch. Feuerberge, die ihre Flammen hoch in den Himmel spuckten, die Nacht mit ihrem rot-glühenden Leuchten verzauberten – Nächte, die ohne ihr Feuer so dunkel waren, dass die Sterne in ihnen glitzerten wie Sonnenlicht auf Wasser. Stille, so tief wie das Meer, so weit wie der Himmel selbst. Stille, die, wenn man ihr lange genug lauschte, den Gesang der Sterne bis hinab auf die Erde lockte. Andra seufzte so schwer, dass ihr ganzer Körper zitterte. Sie biss die Zähne zusammen und wandelte ihre Gestalt.

Sehnsucht hilft dir auch nicht weiter“, murmelte sie vor sich hin und wischte sich Erde von den Händen. Langsam ging sie ans Ufer, starrte zu den Lichtern auf der anderen Seite, auf die Stadt, in der immer irgendwo Menschen wach und geschäftig waren, Tag wie Nacht. Andra wandte sich vom Ufer ab und schlenderte über die kleine Insel. Dieses Mal gab sie der Versuchung nach und flog auf einen der Türme des weißen Schlösschens, verwandelte sich nach der Landung schnell wieder in ihre Menschengestalt.

Hier oben ließ sich der Wind besser spüren. Sie konnte weiter blicken. Lauschen. Bäume knarrten und raschelten. Sie hörte nicht auf ihren Gesang, das Stocken darin. Dachte nicht an das Gift. Das Wasser plätscherte leise gegen das Ufer. Sie dachte nicht an das endlose Rauschen von Wellen, das sie in den Schlaf gewiegt hatte, früher.

Krähen krächzten in den Bäumen, und sie dachte nicht an Elyf. Ganz besonders nicht an Elyf. Sie dachte so sehr nicht an Elyf, dass sie meinte, ihr windzerzaustes Haar zu riechen, ihre Hand auf der Schulter zu spüren, sogar ihre Stimme zu hören, dunkel und weich. „Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich nicht finden?“

Andra rührte sich nicht. Einen Moment, nur noch einen Moment länger wollte sie sich dieser Illusion hingeben. „Du solltest vor mir fliehen, nicht nach mir suchen“, wisperte sie in die Nacht.

Warum?“, kam es ebenso leise zurück. Und da sie mit einer Illusion sprach, erzählte Andra alles. Die Hand auf ihrer Schulter zitterte nicht, zog sich nicht zurück, nur der Atem hinter ihr stockte manchmal, als würde der Wind selbst innehalten. Aber sie flüsterte ihre Worte weiter hinaus. Erzählte von ihrer gedankenlosen Tat, die das Gift in diese Welt gebracht hatte, an dem die Bäume starben, unaufhaltsam. Von ihrer Verbannung, ihrer Aufgabe, an der sie scheiterte. Und schließlich von der Sphinx, der grausamen Bibliothek und dem Preis für das Wissen um die Magie, die das Gift bannen und sie zurück nach Hause bringen würde.

Und wenn ich dir all das jemals wirklich erzähle, wirst du mich hassen.“ Andra zwang sich dazu, sich umzudrehen, wollte die Illusion zerstören. Doch Elyf war keine Illusion. Sie stand ihr gegenüber, schweigend, blickte sie aus ihren dunklen Augen an, rührte sich nicht. Auch Andra konnte sich nicht rühren. Alles in ihr schrie sie an zu fliehen, so weit und so schnell wie möglich. Aber sie verharrte wie festgefroren, keines Wortes mehr fähig, keiner Regung.

Und so konnte sie nur zuschauen, als Elyf langsam die Hand hob, die bei Andras Drehung von ihrer Schulter geglitten war. Sie würde den Schmerz willkommen heißen, sollte Elyf sie schlagen. Doch die strich ihr mit den Fingerspitzen über die Schläfe, glitt mit der Hand durch ihre Haare wie Wind durch Schilf, schmiegte sich an sie, hielt ihren erstarrten Körper, wiegte ihn wie endlose Wellen. Und Andra wusste nicht mehr, ob sie sich noch wünschte, Elyf wäre eine Illusion und hätte ihre Worte nie gehört – oder ob sie sich in dieser Wirklichkeit verkriechen und nie daraus erwachen wollte. Sie lehnte den Kopf an Elyfs Schulter, drückte das Gesicht an ihren Hals.

Hier wollte sie bleiben. Sie spürte das Vibrieren von Elfys Stimme, als sie schließlich sprach. „Wenn ich dir also helfe und wir meine Welt retten, dann verliere ich dich?“

Andra schluckte. Ein irres Lachen stieg in ihr auf. Bei allem, was sie hätte sagen, ihr vorwerfen können, fragte sie das? Andra presste ihr Gesicht fester an Elyfs Hals, presste die Lippen zusammen, damit das irre Lachen nicht aus ihr herausbrach. Sie nickte stumm. Schluckte und schluckte und schluckte, bis sie das Lachen tief in sich begraben hatte. Dann erst öffnete sie den Mund. „Aber ich kann nicht zulassen, dass du mir hilfst“, wisperte sie an gegen Elyfs Hals. „Ich werde nicht zulassen, dass du in ein Buch verwandelt wirst, ein lebendiges Buch.“ Sie packte Elyfs Arme, hob den Kopf. „Du willst dir nicht einmal vorstellen …“ Sie zitterte, verstummte.

Elyf schloss die Hände um ihre Unterarme, sah sie an. „Und wenn es einen anderen Weg gibt?“

Dann würdest du mich immer noch verlieren – und ich dich. Andra sprach die Worte nicht aus. Vielleicht las Elyf sie in ihren Augen. Vielleicht auch nicht. Sie hielt sie so fest, wie sie es mit Händen vermochte. „Kennst du denn einen anderen Weg?“ Und obwohl sie die Frage aussprach, wusste sie nicht, ob sie die Antwort hören wollte.

… meine nachgetragene Fortsetzung für den Oktober (gerade noch so im Oktober geschafft – und sogar an einem Montag!). Im November geht es wieder am gewohnten 3. Montag des Monats weiter. 😉 Für den Oktober hatten wir als Thema: „Flieht, ihr Narren!“ (Tolkien, Gandalf) – und was die Kolleg:innen daraus gemacht haben, könnt ihr hier nachlesen:
Mama von Carola Wolff
Katharsis von C. A. Raabe
Viel Spaß beim Lesen!