Phantastischer Montag: Frage und Antwort

Elyf hatte sich zurückgezogen, bevor Andra ihre Bitte an die Harpyien richtete. Zur Vorsicht. Sie wollte nicht einmal in den Verdacht geraten, sie ein zweites Mal um Hilfe zu bitten, hatte sie gesagt. Als sie Marthes Warnung für Andra wiederholte, lag die Angst nicht nur in ihrer Stimme sondern auch in ihren Augen: Solltest du einen zweiten Versuch machen, eine zweite Bitte aussprechen, werden sie dich für den Rest deines Lebens Nacht für Nacht heimsuchen und dir Albträume zuflüstern. Du wirst darüber verrückt, aber egal, wohin du fliehst, sie finden dich. „Der Wind kommt überall hin“, hatte Elyf hinzugefügt und Andra zweifelte keinen Augenblick lang an ihren Worten.

Sie war auf den kleinen Schlossturm geflogen, wo sie sich vor Blicken verbergen konnte, sollten die Harpyien sich mit ihrer Antwort Zeit lassen. Was gut möglich war, hatte Elyf sie gewarnt, denn ihr Zeitverständnis ist anders als unseres. Andra seufzte und duckte sich hinter die Turmummauerung, so tief sie nur konnte, so tief, dass keine einzige ihrer Schuppen über den Rand hinausragte.

Wo finde ich die Magie, mit der ich diese Welt vor dem Drachengift retten kann? Sie sagte sich ihre Bitte immer wieder stumm auf. Erst als sie ganz sicher war, dass sie kein Wort vergessen, keines falsch aussprechen oder die Reihenfolge durcheinander bringen würde, hob sie noch einmal den Kopf, prüfte, woher der Wind kam. Es war nur noch eine laue Brise, aber die musste genügen. Andra richtete sich so aus, dass der leise Wind ihre Worte mit sich tragen würde. Ein letztes Mal überdachte sie ihre Bitte. Dann schloss sie die Augen und sprach sie aus.

Der Wind veränderte sich nicht. Er strich weiter mit zarten Fingern über ihre Schuppen und schwieg. Geduld, redete Andra sich zu. Sie senkte den Kopf auf die Pfoten. Seufzte leise. Blinzelte. Schloss die Augen wieder. Blinzelte. Da war der eine Gedanke, der sich nicht vertreiben ließ. Das eine, was sie Elyf verschwiegen hatte: Die Magie, mit der sie diese Welt vor dem Drachengift retten konnte, würde sie zurück in ihre Welt tragen. Fort von Elyf. Andra drückte den Kopf fester auf die Pfoten. So sehr sie sich anfangs nach dieser Rückkehr gesehnt hatte, so sehr riss die Vorstellung sie jetzt in Stücke. Sie wollte Feuer speien, den Schmerz mit ihren Flammen hinausschreien, doch sie musste ruhig bleiben, sich eng an die Steine pressen, durfte ihre Anwesenheit hier nicht verraten.

Und selbst wenn sie ihre Flammen in den schwindenden Nachthimmel hinaufgeschickt, geschrien hätte – dieser Schmerz in ihr würde sich davon nicht beruhigen lassen. Und so wartete Andra und wünschte sich, die Harpyien würden sich beeilen und ewig Zeit lassen. Sie wünschte sich, sie könnte sich beim Warten an Elyf schmiegen, mit ihr flüstern und schweigen und sie bei sich spüren. Doch sie musste allein warten, musste sich mit dem Wissen zufriedengeben, dass Elyf in ihrem Versteck auf sie wartete. Auf sie und ihre Antwort, die ihre Welt retten würde.

Der Nachthimmel ergab sich dem Morgenlicht und bald darauf klangen die Stimmen von Menschen, die der Insel einen Besuch abstatteten zu Andra hinauf. Nur die Stimmen der Harpyien hielten sich weiter fern. Vielleicht war sogar für sie diese Frage nicht zu beantworten. Vielleicht würde sie also für den Rest ihres Lebens in dieser Welt festsitzen. Andra grub die Krallen in den Stein unter ihren Tatzen. Ein Leben mit Elyf. In einer sterbenden Welt. Der Stein knirschte unter ihren Krallen, bröckelte. Zum ersten Mal erlaubte Andra sich die Vorstellung, wie es wirklich sein würde.

Elyf würde lange vor dieser Welt sterben. Während sie weiterleben musste. Sie musste weiterleben und zusehen, wie nach und nach alles und alle auf dieser Welt ausstarben. Ihre Flamme würde erst erlöschen, wenn auch das letzte Fünkchen Leben der Welt selbst aufgab. Andra zitterte, obwohl die Morgensonne ihre Schuppen wärmte. Wie ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab, breitete sich diese unermessliche Einsamkeit in ihr aus, grub sich in sie ein, riss Furchen in sie wie ihre Krallen in den Stein. Der Wind schmiegte sich an sie wie ein Körper aus Federn und Haut, pochte an ihren Schuppen wie stetig-ruhige Herzschläge. Doch auch der Wind würde sterben.

Andra merkte erst, dass sie ihre Augen zugekniffen hielt, als Federn darüber strichen. Sehnsuchts-Einbildung, war ihr erster Gedanke, und sie wollte die Augen nicht öffnen, wollte nicht sehen, dass sie allein war, so wie sie enden würde. Denn ganz sicher würde sie verzweifeln in solcher Einsamkeit, würde sich vorstellen, würde spüren, was nicht mehr war, und wenn sie dann die Augen öffnete, würde die Verzweiflung nur wachsen.

„Andra“, wisperte der Wind und wisperte und wisperte, bis selbst ihre Augenlider zitterten und sich nicht länger geschlossen halten ließen. Andra blinzelte, riss die Augen auf. Nicht der Wind schmiegte sich an sie sondern Gestalten, wie sie sie nie zuvor gesehen hatte. Körper aus Federn und Köpfe wie Menschen mit langem, wehenden Haar. Dunkle Augen voller Zärtlichkeit. „Du musst einen anderen Traum wagen, Drache“, wisperten die Windstimmen der Harpyien und streichelten Andras Wangen, Andras Tatzen, bis ihr Zittern aufhörte, bis ihre Krallen sich entspannten und aus dem Stein zurückzogen. Andra hielt ganz still, konzentrierte sich auf die Federn, die über ihre Schuppen strichen, auf das Wispern, das ihren Albtraum vertrieb.

„Du hast die Magie mit in diese Welt gebracht. Du kannst sie nur in dir finden.“ Noch einmal liebkosten die Federn ihren Drachenkörper und dann küsste nur noch der Wind ihre Schuppen. Andra lauschte und lauschte, doch die Windstimmen waren fort. Und ihre Worte schienen nichts als ein Echo dessen, was der Rat der Drachen ihr kurz vor ihrer Verbannung in diese Welt gesagt hatte. Stell es dir vor, und es wird passieren. Andra drückte sich an den Steinboden und wartete auf die Nacht. Wünschte sich, der Tag würde sich ewig Zeit lassen, damit sie Elyf nicht mit dieser hoffnungslosen Antwort gegenübertreten musste. Doch der Tag verging.

… Fortsetzung folgt im nächsten Monat!
Für den November haben wir uns für den phantastischen Montag ein Zitat von Virginia Woolf gewählt: „Wer uns unserer Träume beraubt, beraubt uns unseres Lebens.“ Wie immer könnt ihr bei den Kolleg*innen nachlesen, was sie daraus gemacht haben:
Carola Wolff: Shit happens
C. A. Raaven: Hey now