Phantastischer Montag: Versprechen

Die Nacht hatte wieder alle Menschen von der kleinen Insel verscheucht. Andra streckte die Flügel und flog von dem Turm hinab. Kaum hatte sie sich von ihrer Drachen- zu ihrer Menschengestalt gewandelt, blickte sie in Elyfs erwartungsvolle Augen. „Was haben sie gesagt?“, platzte die dann auch sogleich heraus. Wie konnte sie dieses Gesicht enttäuschen? Andra blickte von Elyf fort über das dunkle Wasser. Vom anderen Ufer schimmerten Lichter hinüber, warfen schwankende Leuchtspuren über den See. Nichts Hilfreiches, ging Andra durch den Kopf. Doch diese Antwort wollte sie nicht geben. Also blieb nur, was die Harpyien tatsächlich gesagt hatten.

„Ich soll einen anderen Traum wagen.“ Andra schüttelte den Kopf und wagte nicht, Elyf wieder ins Gesicht zu blicken. Ließ zu, dass die auf dem Wasser schimmernden und schwankenden Lichter ihre Aufmerksamkeit festhielten. „Einen, in dem die Welt nicht zerstört wird, schätze ich mal“, murmelte sie.

„Das ist alles?“

„Alles, was sie gesagt haben.“ Die Lichter wippten auf und ab, zuckten nach rechts und links, machten das Wasser an ihren Rändern dunkler als die Nacht. Zuhause wären es Sterne, die sich im Wasser spiegelten. Und ihre Gefährten oben in der wirklich dunklen Nacht würden singen, und die Nacht und das Wasser und die Drachen in den Schlaf wiegen. Hier schwiegen sie.

„Andra?“

„Was?“ Sie blinzelte und fuhr herum.

Elyf strich ihr über den Arm. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Du hast nur so verloren ausgesehen. Dabei wissen wir doch jetzt, was zu tun ist.“

Andra starrte in Elyfs Lächeln. Sie wussten …? Nichts wussten sie! Das war ja genau das Problem! Warum verstand Elyf das nicht? Warum lächelte sie? Es gab keinen Grund dafür. Nur rätselhafte, nutzlose Worte, eine sterbende Welt und keinen Weg nachhause. Andra drehte sich von Elyfs Berührung weg. „Es gibt hier keine Magie, begreifst du das nicht? Die Menschen haben alle Schönheit in dieser Welt zerstört – und mein Gift wird den Rest tun.“

„Alle Schönheit zerstört?“ Elyf starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Hast du dich hier mal umgeschaut?“

Genau das hatte sie getan. Andra begriff nicht, warum Elyf so wütend dreinblickte. Schönheit konnte sie in dieser Welt wirklich nur in diesem Wesen ihr gegenüber entdecken – Elyf war sogar als Mensch schön und als Krähe noch schöner.

„Sieh mich nicht so an, wenn ich wütend bin!“ Elyf verschränkte die Arme.

„Wie soll ich dich denn nicht ansehen?“

„Na, nicht so – so verliebt.“ Elyf biss sich auf die Unterlippe. „Das lenkt mich ab.“

Andra lächelte ein wenig. „Vielleicht das Beste, was wir noch tun können, uns ablenken lassen.“ Ablenken von einer Welt, die starb, von dem Gedanken, dass Elyf kürzer leben würde als sie und dass sie dann allein dieser fremden Welt beim Sterben zusehen musste. Verfluchtes langes Drachenleben! Wenn sie doch nur in der Zeit zurückreisen könnte! Dann würde sie ihrem jüngeren Ich gehörig die Schuppen putzen und ganz schnell die Idee austreiben, Drachenfeuer mit Regentropfen zu mischen – weil, das glitzert so schön. Ehrlich, wie gedankenlos und leichtfertig konnte ein Drache sein? Glitzerndes war zum Genießen, zum Anschauen und Genießen, aber eben nur das, was schon glitzernd existierte in der Welt. Das lernten alle jungen Drachen. Und wie alle hatte auch sie die Geschichten gekannt und die Warnungen gehört, und trotzdem hatte sie sich verführen lassen. Was stimmte nicht mit ihr? „Es tut mir leid“, murmelte sie.

„Dann beweis es! Gib nicht einfach auf.“ Elyf funkelte sie an. „Oder willst du mir erzählen, dass diese Welt keine Rettung wert ist? Ja, wir Menschen haben hier viel zerstört – aber wir leben hier nicht allein. Wenn du meinst, wir sind unsere Welt nicht wert, dann rette sie wenigstens für alle anderen! Für die Krähen und Spatzen und Stare und Kraniche und Möwen und Finken und Papageien und Störche und Schwalben und überhaupt alle Vögel, alle Tiere. Und was ist mit Blumen? Und Seen? Und Sträuchern?“ Sie gestikulierte und deutete wild um sich. „Was ist mit den Bäumen? Was ist mit deinen geliebten Vulkanen? Und Gebirgen? Und Meeren? Schließlich existiert auch all das in dieser Welt! Willst du das alles sterben lassen?“

Nein. Nein, das wollte sie nicht. Ihre Menschenstimme reichte nicht, um das hinauszuschreien. Also schüttelte Andra nur stumm den Kopf. Aber auch das genügte nicht. Sie wandelte sich. Sie streckte ihre Flügel und brüllte ihre Wut, ihre Verzweiflung hinaus, brüllte sie über das Wasser und über die Stadt, schrie bis in den Himmel und zu den Sternen hinauf. Alles lag darin. Ihre Wut auf sich selbst und ihre Leichtfertigkeit. Ihre Verzweiflung über ihre Verbannung. Die Reue über ihre Tat. Ihre Liebe zu Elyf. Ihr Bedauern, dass sie die Schönheit dieser Welt nicht begreifen konnte. Ihr Wunsch, diese Welt zu retten, auch wenn sie sie nie begreifen würde. Ihre Sehnsucht nach ihrer eigenen Welt, nach den Drachen.

Und ihr Schrei wurde bis hinter den Sternen gehört. Die Drachen hörten sie und erwiderten ihren Ruf aus tausenden von Kehlen. Ihre Stimmen fanden einander über die Welten hinweg.

Federn schmiegten sich an die empfindsamen Schuppen an ihrem Hals. „Siehst du das?“, wisperkrächzte Elyf. Und Andra schaute. Schaute zu den Bäumen, aus denen sich lange glitzernde Fäden, fein wie Sternenstaub in den Himmel reckten. Sie stiegen hoch, hoch hinauf, bis sie sich im weiten Dunkel der Nacht verloren. Und Andra spürte, wie die Rufe der Drachen auch an ihr zerrten, sie riefen und lockten, verlangten, dass sie die Flügel streckte, sich hinaufschwang und ihnen folgte. Einen Moment noch, nur einen Moment, bat sie und kämpfte den Drang nieder.

Andra stupste Elyf vorsichtig an. „Ich muss gehen“, wisperte sie. „Die Drachen rufen mich.“

Elyf drückte sich an sie. „Ich wünschte, ich könnte mit dir kommen“, flüsterkrächzte sie. „Doch ich will auch hier bleiben.“

Das verstand Andra nur zu gut. Niemals würde sie Elyf aus ihrer Welt reißen, fort von ihren Krähenschwestern und allem, was ihr vertraut und nah war. Und aus all diesen Gründen musste sie zurückgehen. „Wir sehen uns wieder“, versprach sie leise, versprach es sich selbst ebenso fest wie Elyf.

„Wir sehen uns wieder.“ Federspitzen strichen über ihre Schuppen. Dann flog Elyf zurück ins Gras. „Schließlich müssen wir auch noch all die Wesen aus den Büchern befreien. Oder hast du die vergessen?“, setzte sie rau hinzu.

„Nein. Nein, die vergesse ich gewiss nicht.“ Andra breitete ihre Flügel aus. „Und dich auch nicht. Niemals.“ Sie drückte sich vom Boden ab und schwang sich hinauf in den Himmel, folgte den Stimmen der Drachen.

… und damit sind wir erst einmal am Ende der Geschichte um Andra und Elyf angelangt. 😉 Der phantastische Montag wird auch im nächsten Jahr weitergehen, mit neuen Geschichten und Inspirationen, versprochen!