Phantastischer Montag: Die Uhrgeister

(Im Mai gab es wieder fünf Montage und somit am fünften Montag von uns allen eine Geschichte zu magischen Gebäuden.)

Es schlug Mitternacht. Wie jede Nacht lauschten viele Menschen den Klängen, wie jede Nacht hatten sie keine Ahnung, was in diesem speziellen Glockenturm zur Mitternacht geschah. Denn alles, was sie sahen, waren die großen, schwingenden Glocken, alles, was sie hörten, waren die tiefen und die hohen Klänge, die weit durch ihr Viertel hallten. Manche Menschen standen sogar direkt vor dem Turm, blickten zu der Uhr ihren Zeigern aus dunklem Metall empor und sahen nur, wie der große Zeiger über den kleinen rückte, die Nacht zerteilte.
Was sie nicht sahen: Wie mit jedem Glockenschlag ein Geist aus der Uhr flog. Der erste aus der Elf, der zweite aus der Zehn und immer so weiter, bis der zwölfte Geist aus der Zwölf hervorkam, sich den anderen anschloss, die geduldig vor der Uhr herumschwebten und warteten, bis sie vollzählig versammelt waren.

Sie kreisten um den Turm, der ihnen ein Zuhause bot, seit sie in den Stätten der Lebenden keines mehr hatten. Da war Fili, von der niemand wusste, wie lange sie schon im Turm hauste. Sie war klein und wendig und geschwind und meistens fröhlich. Nur auf ihren Tod war sie nicht gut zu sprechen, weswegen ihr niemand mehr als ein einziges Mal dazu Fragen stellte. Sie war stets die Erste, die aus der Uhr kam und hatte einen Plan für die verbleibenden Stunden der Nacht, wenn sich alle schließlich versammelt hatten.

Lung kam immer als Letzter. Er verließ den Turm ungern und war auch noch nicht lange dabei. Der Tod ging ihm noch nahe. Nur Fili konnte ihn aufmuntern. Die anderen ließen ihm respektvoll seine Ruhe und seine Schwermut.

Diese Nacht jedoch war anders, das spürten sie alle. Und so blickten sie auf Fili, schweigend, mit großen Augen. So hatte sich noch keine Nacht angefühlt, sogar Lung vergaß seine Schwermut über der Verwunderung.

Mirx spürte in alle Richtungen, so die Nachtluft tief ein. Die roch so ganz anders als sonst. Sicher, da waren alle Gerüche der Stadt, von aufgeheiztem Asphalt, der selbst jetzt noch warm unter ihnen lag, bis zu einem zarten Zitronenduft von einem Balkon, irgendwo in den Straßenschluchten. Aber etwas fehlte.

Fili flitzte einmal um den Turm, als wollte sie den Geruch in allen Richtungen prüfen, schoss hoch sein Dach hinaus, als bräuchte sie den Blick über die ganze Stadt, um sich zu vergewissern, dass es so war, wie sie es alle spürten.

Rena sprach es aus, weil sie diejenige war, die immer aussprach, was sie sich alle fragten: „Wie ist das möglich?“

Ohne eine Antwort auf die Frage, kehrte Fili zu den anderen zurück. „Ich weiß es nicht. Aber heute ist ganz offensichtlich niemand gestorben.“ Ihre Worte klangen hell durch die Nacht und verfingen sich darin, hörbar nur für Geisterohren. Niemand gestorben. Niemand ist gestorben, gestorben, gestorben. Niemand.

„Unmöglich“, wisperte Jula. Und die anderen Geister widersprachen nicht. In so einer großen Stadt brachte jede Nacht neue Tote. Und so auch neue Geister. Ihr unverwechselbarer Geruch führte die Zwölf stets zu ihnen. Sie begrüßten sie, halfen ihnen über den ersten Schock ihrer neuen Existenz hinweg, beantworteten ihre Fragen, zeigten ihnen die verlassenen, geister-freundlichen Gebäude, wenn sie bleiben wollten. Halfen ihnen zu gehen, wenn sie einen endgültigen Tod statt einer Geisterexistenz wünschten.

Sie waren die Uhrgeister. Sie waren diejenigen, die nicht gingen. Oder nur sehr, sehr selten. Alt waren sie alle. Selbst Lung, der neueste unter ihnen, der vor 157 Jahren dazu gekommen war. Damals, als Nili nach 791 Jahren Schluss gemacht hatte – aus der Uhr ausgezogen war, wie sie das hier nannten.

„Wie ist das möglich? Unmöglich!“, hallten die zwölf Stimmen durch die Nacht. „Schauen wir uns das näher an“, entschied Fili schließlich. Und so flogen sie aus. Kreuz und quer und hin und her zogen sie durch die Stadt, keine Straße ließen sie aus, sie vergaßen keine einzige Gasse. Sie lauschten allen Menschen, über die sie hinwegstreiften. Sie befragten alle Geister, die ihnen begegneten.

Außer ihnen hatte noch niemand die fehlenden, neuen Geister bemerkt. Was erst einmal nicht ungewöhnlich war, denn nur sie konnten ihren Geruch wahrnehmen. Und Menschen konnten Geister ohnehin weder sehen noch hören, noch riechen, schmecken, spüren – es sei denn, sie legten es darauf an. Also, die Geister. Aber wozu? Die interessanteren Gespräche führten sie untereinander. Eine Geisterexistenz begriffen eben nur Geister.

Die einzigen Menschen, die sich ein wenig wunderten, waren die in Krankenhäusern und Pflegeheimen, diejenigen, die Sterbenskranken nahe standen – sie alle wunderten sich, aber sie nahmen dieses Verwunderliche als ein Geschenk an. Und noch war die Nacht auch nicht zu Ende. Noch konnte alles geschehen. So atmeten sie durch und gingen weiter ihren Tätigkeiten nach, sorgten und pflegten und linderten Schmerzen, wo sie konnten, hielten Hände, strichen über heiße und kalte Stirnen, lauschten schweren Atemzügen und leisen Stimmen.

Ein wenig mehr wunderten sie sich in der Rechtsmedizin. Einen Tag, eine Nacht ohne Tod, das kannten sie hier nicht. Gestorben wurde immer. Und nicht immer eines natürlichen Todes. Hier sahen sie alles, was Menschen anderen Menschen antaten. Und auch wenn so eine Unterbrechung angenehm war, so war sie doch ungewöhnlich genug, um Fragen aufzuwerfen.

Die Uhrgeister trafen auf dem ältesten Friedhof der Stadt wieder zusammen. „Ist das wirklich noch nie vorgekommen?“, fragte Niri, die wie Lung noch nicht allzu lange dabei war. Fili versicherte ihr, dass es das einfach nicht gab. Die Nachtstunden rückten bereits dem Morgen entgegen und so zogen sie sich in den Glockenturm zurück. Morgen Nacht würde sicherlich alles anders sein, wieder so, wie es sein musste. Doch auch in der folgenden Nacht fanden sie keine neuen Geister. Ebenso wenig in der darauf folgenden oder in der nächsten, ja, es verging sogar Nacht um Nacht ohne einen einzigen neuen Geist.

Auch die Menschen wurden allmählich unruhig. Was war passiert, dass niemand mehr starb? Würde das jetzt immer so weitergehen? Hatten sie plötzlich Unsterblichkeit entwickelt? Manche glaubten an ein Wunder, manche sorgten sich bereits, wie es weitergehen sollte, wenn wirklich niemand mehr starb, wie das Leben und die Welt aussähen, sollten immer mehr und mehr Menschen immer weiter und weiter und weiter leben. Kommissionen wurden gegründet und Forschungsgruppen, die diesem Phänomen nachgehen sollten. So wunderten und sorgten sich Menschen wie Geister über den fehlenden Tod.

Während sich die anderen Geister in wilden Spekulationen über die Ursachen verloren, ging Fili etwas nicht aus dem Kopf, das sie Nacht um Nacht bemerkte. Aber sie konnte es selbst kaum glauben, daher suchte sie weiter, bis sie ganz sicher sein konnte, bevor sie den anderen Uhrgeistern ihre Beobachtung verriet. „Ist euch aufgefallen“, fragte sie dann eines Nachts, „dass es in der ganzen Stadt keine neuen verlassenen Gebäude gibt?“ In den wenigen alten drängten sich die Geister immer enger zusammen. Und auch diese Stätten schienen von Abriss oder Wiederaufbau bedroht. Sicher, bisher war es ab und an vorgekommen, dass Geister umziehen mussten, weil ein Gebäude von Menschen wieder repariert und bezogen wurde, aber es hatte nie einen Mangel an neu verlassenen Häusern in der Stadt gegeben.

„Du meinst -“ Lung riss die Augen weit auf und sackte dann in sich zusammen. „Aber das ist ja furchtbar.“
Niri blickte irritiert, Mirx fuchtelte mit den Armen, als wollte sie etwas sagen und fände keine Worte. Dara schmiegte sich an Lung, manchmal konnte er ihn damit trösten. Doch heute schien keine dieser Nächte zu sein. Auch Jula und Rena drückten sich aneinander, während die anderen über die alten Gräber huschten, durch die Luft flitzten und sich gar nicht beruhigen mochten. Fili winkte sie alle zusammen. „Ich meine, dass es keine neuen Wohnstätten für Geister mehr gibt. Und die von uns bewohnten sind so voll, dass sie keine neuen mehr aufnehmen können.“

„Wir werden alle gehen müssen“, schluchzte Lung und Dara schmiegte sich noch fester an ihn. Aber jetzt konnte auch er ein Schaudern nicht mehr unterdrücken. Es war nun einmal so: Geister konnten nur bleiben, wenn sie eine von Menschen verlassene Wohnstätte fanden. Und wenn es die nicht mehr gab … nein, das mochte er sich nicht vorstellen.

Fili schüttelte den Kopf. „Niemand muss gehen. Ich habe einen Plan.“

Und so kam es, dass die Geister begannen zu spuken und ganz neue Legenden über sich zu erfinden, die sie in die Erzählungen der Menschen schmuggelten. Die fürchteten sich bald noch vor dem harmlosesten Geist und mieden Gebäude, von denen es hieß, sie seien verflucht oder eben von Geistern bewohnt. Gruselgeschichten breiteten sich aus. Und die Zeit des fehlenden Todes ging vorüber. Die Menschen vergaßen sie bald, taten sie als eine übertriebene Erzählung leichtgläubiger und naiver Gemüter ab. Die Geisterhäuser allerdings, die ließen sie alle in Ruhe. Nur manchmal kommen dort noch Menschen vorbei, wollen eine Nacht darin verbringen und sich gruseln – ein Spiel, an dem inzwischen auch so manche Geister ihre Freude gefunden haben.

(Die anderen Geschichten zum fünften Montag im Mai findet ihr hier: Zartbitter & Zimt von Carola Wolff, Immersion von C. A. Raaven)