Phantastischer Montag: Fundstück

(2023 widmen wir uns den unterschiedlichsten Genres der Phantastik, im Mai ist es Urban Fantasy.)

Beginnen wir mit einem Irrtum, dem auch andere magische Wesen durch die impertinenten Erzählungen der Menschen über uns aufsitzen: unser Name. Wir sind weder Elfen, noch Elfinnen. Wir sind keine Feen und keine Elf*innen. Wir sind Elfyr. Eine Bezeichnung für alle Geschlechter, einschließlich derer, die wir selbst vielleicht erst noch entdecken werden. Wir nehmen keineswegs an, dass wir bereits alles wissen (obwohl wir schon sehr, sehr lange leben – die Existenz der Menschheit ist ein Witz dagegen).

Merkt euch das endlich. Gerade in einer diversen Stadt wie Berlin sollte das doch möglich sein. Wenigstens unter uns magischen Geschöpfen. Unter uns ist schließlich auch klar, dass wesentlich gravierendere Irrtümer über uns im Umlauf sind. Zum Beispiel diese Behauptung, es existiere ein „helles“ und ein „dunkles“ Volk von uns, meistens in Kombination mit den Attributen „gut“ und „böse“.

Nummer eins: Wir leben nicht in solchen Gegensätzen und Binaritäten.
Nummer zwei: Hört auf, eure Vorurteile und wirren Annahmen auf uns zu übertragen. Weder ist hell gleichbedeutend mit gut, noch ist dunkel gleichbedeutend mit böse. Dunkel und hell können sich auf Lichtverhältnisse und Farben beziehen. Gut und böse sind Eigenschaften, für die denkende Geschöpfte sich bewusst entscheiden können. Das ist doch wirklich sehr leicht zu begreifen.
Nummer drei: Denken hilft. Wirklich.

Luft holen.
Durchatmen.

Schon gut, schon gut, ich bin ganz ruhig. Schließlich sind wir hier für eine Geschichte. Und die beginnt jetzt. Es war ein früher Morgen, diese Zeit, in der die letzten Feiernden aus den Clubs nach Hause taumeln und sich mit denen mischen, die schon zur Arbeit unterwegs sind (selbst an einem Sonntag, schließlich sind wir hier in einer Großstadt, die keine wirkliche Feiertagsruhe kennt und irgendwer muss immer arbeiten). Das Morgenlicht färbte sich allmählich blau ein, erstes Sonnenlicht kitzelte den Horizont dort, wo er in der Stadt sichtbar war. Ich lehnte am Geländer des Wullenweberstegs (Wer bitte nennt eine Brücke einen Steg?! Menschen.) und verlor mich im silbrig-grauen Wasser der Spree, in dem Kräuseln und Kreiseln des Wassers, in den dunklen Rufen der Krähen hoch über mir. Ich mag Brücken früh am Morgen nach einer durchtanzten Nacht. Alles scheint so friedlich, so voller Möglichkeiten.

Vor mir lag ein Tag ohne Verpflichtungen. Ich würde mir eine Weide am Ufer aussuchen, mich im Schatten ihrer elegant zum Wasser geneigten Äste ausstrecken und zwischen ihren zartgrünen Blättern hindurch in den blauen Himmel blinzeln. Mich vielleicht mit einer Krähe unterhalten, einem Star, einer Schwalbe oder mir von den Spatzen den neuesten Klatsch zutragen lassen (Spatzen wissen über alles Bescheid, was in dieser Stadt so vorgeht, wirklich alles). Mehr Pläne hatte ich für diesen Tag nicht. Und auch keine Eile, sie in die Tat umzusetzen.

Na gut, ich habe gelogen. Eine Verpflichtung hatte ich. Bis zum Abend musste ich eine Entscheidung treffen. Und ich hoffte, ein Tag voller Träumerei würde das leichter machen. Wenn ich den ganzen Tag über nicht an diese eine Sache dachte, würde ich am Abend wissen, wie ich mich entscheiden wollte. Die hohe Kunst der Ablenkung, während das Unterbewusstsein das Problem wälzt und zu einer Entscheidung kommt.

Zumindest stellte ich mir das so vor. Ich beugte mich über das Geländer und spuckte ins Wasser, sah dem Spuckeklumpen zu, wie er aufs Wasser tatschte. Ich kannte diesen Fluss noch aus Zeiten ohne steinerne Uferbegrenzungen, als die Stadt noch keine Stadt gewesen war. Sie und ich, wir hatten keine Geheimnisse voreinander, waren zusammen aufgewachsen, älter geworden, zerrüttet, grau und bunt.

Schnell blickte ich mich nach allen Seiten um. Für den Moment war ich (bis auf die Vögel) allein. Mit einem weiten Sprung setzte ich über das Geländer und landete auf der rechten Uferseite (nicht nachmachen, wenn du ein Mensch bist, das könnte tödlich enden). Das Ufer war hier zwar gerade eine Baustelle, aber an einem Sonntag blieb die sogar in einer Stadt wie Berlin ruhig. Ich zog die Schuhe aus und drückte die Füße ins kühle Gras, schlenderte bis zu der Weide, deren längste Äste das Wasser berührten. Unter ihr streckte ich mich aus.
Kühles Gras kitzelte meinen Nacken und in der Erde darunter spürte ich die Vibrationen der Stadt. Die tänzelnden, schweren, schlurfenden, schnellen Schritte derjenigen, die zu Fuß unterwegs waren. Das grelle, greinende Grollen der U-Bahnen, während über mir die Frühlingsblätter der Weide schimmerten, der Wind in ihnen rauschte. Weiter unten glucksten kleine Wellen gegen die Steinmauer, und die Spatzen erzählten einander die Beobachtungen aus der Nacht.

Erst hörte ich ihnen nicht wirklich zu, fügte ihre Stimmen in das Geräuschmuster der Stadt ein, die allmählich lauter wurde und wacher. Aber als einer der Spatzen auf meinem Handrücken landete und mich laut antschilpte, zerfiel das Muster in alle Einzelteile. Ich blinzelte. Blickte ihn an. „Was ist?“ Was ich dann hörte, ließ mich auffahren, und der Spatz flatterte davon, empört tschilpend über die abrupte Bewegung. „Halt! Warte! Sag das nochmal!“ Aber der Spatz flog schon zwischen den Weidenblättern hindurch und alle anderen schlossen sich an, schossen davon. Flatterhafte Bande!

Ich rieb mir die Kratzer auf dem Handrücken, die Spatzenkrallen dort hinterlassen hatten. Langsam stand ich auf. Wenn es stimmte, was der Spatz gesagt hatte, musste ich dem nachgehen. Sofort. Ich nahm mir nicht einmal die Zeit, die Schuhe wieder anzuziehen, verknotete schon im Laufen ihre Schnürsenkel miteinander und warf sie mir über die Schulter, eilte weiter am Ufer entlang. Mir schwirrten so viele Fragen durch den Kopf, dass einzelne Worte jede Bedeutung verloren. Ich rannte die Stufen der nächsten Brücke hinauf, hetzte die Straße am Ufer entlang, tauchte dann tiefer in das Straßengeflecht ein, ließ den Fluss hinter mir zurück.

Kurz darauf war ich da, in der kürzesten Allee Berlins, gerade einmal so lang wie die Kirche, die daran steht, breit ist. Ich stoppte. Denn hier war mehr los als am Ufer. Immerhin gab es keinen Gottesdienst (was für ein Wort – von dem ganzen Konzept dahinter mal ganz zu schweigen). Ich legte den Kopf zurück und starrte den Kirchturm hinauf. Soweit hatten die Spatzen recht gehabt: weit oben hockte ein Turmfalke. Er legte den Kopf schräg, spähte umher, bevor er die Flügel ausbreitete und schnell davonflog. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, wie ich unauffällig dort hochkam, um den Nistplatz zu finden. Unsichtbarkeit wäre nützlich gewesen, gehört aber leider nicht zu meinen Fähigkeiten. Also spazierte ich um die Kirche herum, suchte ebenso nach meiner Geduld wie nach einer unbeobachteten Stelle. Ich musste den Nistplatz der Falken erreichen, bevor die Menschen ihn bemerkten.

An der Rückseite wuchsen einige Bäume nah genug, dass sie mich vor Blicken schützen würden – fast bis zum Dach. Alles, was ich brauchte, war ein bisschen Glück. Und das immerhin kann meine Spezies beeinflussen. Ich murmelte schnell die Worte vor mich hin, strich über die Rinde der Bäume und bat sie um Hilfe. Schließlich nahm ich einen auf dem Boden liegenden Zweig und zeichnete die nötigen Symbole in die Erde an den Füßen der Bäume. Jetzt blieb mir nur noch, die Wand hochzuklettern. „Sei mir eine gute Freundin, einverstanden?“, sagte ich und suchte nach Lücken und Rissen im Mauerwerk, die mir Halt bieten würden. Das Gute an diesen älteren Gebäuden war, dass sie mit vielen Verzierungen gebaut waren. Immer wieder gab es kleine Vorsprünge, die das Klettern leichter machten.

Bald genug schwang ich mich auf das weitläufige Dach. Ich blieb auf dem Bauch liegen und schob mich langsam auf den Turm an der Vorderseite zu. Nur weil ich um Glück gebeten hatte, musste ich es noch lange nicht herausfordern und aufrecht über das Dach spazieren. Erst an der Turmwand stand ich auf, drückte mich eng an die Steine und zog mich auf den nächsten Steinsims hoch. Der Falke hatte auf dem oberstens Sims des Turms gehockt. Während ich von einem Sims auf den nächsten kletterte, sang ich leise vor mich hin. Ein Schlaflied für den zweiten Falken, der zweifelsohne auf den Eiern sitzen würde – und mit dem wollte ich mich ganz sicher nicht streiten. Vögel waren sehr eigen, wenn sie ein Ei einmal als das eigene anerkannt hatten. Und sie schienen sich nie zu wundern, wenn sich in ihrem Gehege plötzlich ein Ei befand, das anders aussah als die selbst hineingelegten. Eigentlich eine sehr sympathische Eigenschaft. Ich konzentrierte mich wieder auf das Lied und zog mich vorsichtig auf den letzten Sims hinauf.

Eine Fensterscheibe war halb herausgebrochen. Ich hielt den Atem an und spähte ins Innere. Der Falke hockte in einer großen Kiste, die Flügel halb ausgebreitet, die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt. Schlafend. Ich atmete auf. Schnell griff ich nach innen, öffnete den Fensterriegel. Der Falke zuckte nicht einmal, als das Fenster knarrte und quietschte. Hoffentlich drangen die Geräusche nicht bis nach unten zur Straße. Ich schlüpfte in den kleinen Raum hinter dem Fenster. Er war nicht einmal hoch genug, um aufrecht darin zu stehen. Gebückt lief ich zu dem schlafenden Falken. Sicherheitshalber sang ich weiter und hörte auch nicht damit auf, als ich nach dem Falken griff, ihn sanft hochhob.

Da lag es. Und mir verschlug es die Sprache. Das Ei glitzerte silbrig, blau und grün. Es war größer als die Falkeneier. Ich starrte. Es war mindestens tausend Jahre her, dass wir Elfyr ein solches Ei hier in dieser Welt gesehen hatten. Selbst wir hielten sie hier für ausgestorben (allerdings nicht für bloße Legenden, wie es die Menschen taten), die letzten ihrer Art waren längst ausgewandert. Hatten wir gedacht. Eines der ersten Anzeichen für den Niedergang dieser Welt. Aber jetzt lag vor mir der Beweis, dass es Drachen noch gab. Zumindest einen. Ich kniete mich neben das Gelege. „Hallo“, wisperte ich. Das Ei fühlte sich warm und hart an. Aus der Nähe sah ich, dass keine glatte Schale hatte wie die anderen, sondern aus lauter winzigen Schuppen bestand. Es war etwas größer als meine Hand. Ich drückte es an meine Brust und setzte den noch immer schlafenden Falken zurück auf die anderen Eier.

Einen Moment lang stand ich einfach nur da, hielt das Drachenei mit beiden Händen fest. Mir schien, als spürte ich ein leises Pochen darin. Ein schneller, leiser Herzschlag. Hoffnung. In diesem Moment war meine Entscheidung ganz klar: Ich würde bleiben.

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