Phantastischer Montag: Nachtlauf

In der Nacht rannte sie über die Dächer. Den Sternen näher als dem Boden (auch wenn das nicht stimmte, es fühlte sich wenigstens so an). Solange sie sich nicht erwischen ließ, konnte sie sich Freiheit einbilden. Diese Momente halfen beim Erinnern.
Sie rannte über die Dächer. Ihre Arme und Beine schnitten durch den Wind, der gegen ihre Brust drückte, an ihre Stirn schlug, in ihren Ohren rauschte, ihr den Kopf füllte und den ganzen Körper. Bis sie meinte, sich wieder dem Wind entgegen werfen zu können, die Flügel zu spannen, getragen zu werden, hoch hinauf zwischen die Sterne. Fort und fort und fort und fort.
Shia, Lynx, Dirie, Zyda, Uluna.

Wenn sie die Flügel aufspannen wollte, war es vorbei. Alles stoppte.
Nur der Wind blieb und rief. Und sie flüchtete wieder durch einen der Luftschächte hinab und zwischen die Mauern, die sie von ihm abschnitten. Dann krümmte sie sich auf der viel zu kleinen Matratze zusammen, zog die kratzige Decke über sich und schloss die Augen vor der Dunkelheit. Es roch noch immer nach dem heißen Öl der Maschinen, nach glühendem Eisen und Kohlefeuer. Die Öfen strahlten auch in der Nacht ihre Hitze ab, die nicht genug war. Falsch war. Trotz der hohen Schlote hing der Rauch beständig zwischen den Mauern, verschwand der zischend aufsteigende Wasserdampf nie aus diesen Hallen, setzte sich in jedem Stück Stoff fest, brachte die Steine zum Schwitzen. In der Nacht standen die großen Maschinen still, aber ihr Stampfen dröhnte weiter durch ihren Kopf. Nur im Wind, auf den Dächern, verschwand es.
Shia, Lynx, Dirie, Zyda, Uluna.

Sie würde nicht zulassen, dass sie aus ihrem Gedächtnis verschwanden. Sie würde nicht werden wie die mit den leeren Augen. Die nicht mehr über die Dächer rannten. Zu ihnen würde sie nie gehören. Dafür würde sie nicht lange genug hier sein.
Shia, Lynx, Dirie, Zyda, Uluna.

Sie suchten nach ihr. Daran hielt sie sich fest. Irgendwo dort draußen zwischen den Sternen waren sie und würden nie aufgeben, würden sie niemals aufgeben.
Vor jeder Schicht gelang es ihr, etwas von dem Serum auszuspucken, das ihnen allen verabreicht wurde. Es betäubte ihre Flügel. Tötete ihr Feuer. Solange du nie die volle Dosis schluckst, hast du eine Chance, hatte die alte Vida gesagt, und: Hör nie auf zu rennen.

Das war ganz zu Anfang gewesen. Sie hatte aufgehört, Tage, Wochen, Nächte zu zählen. Nur ein Mal hatte sie das bedauert. Als die alte Vida gestorben war. Sie würde nie ihr Todesdatum wissen. Aber sie würde sich an sie erinnern. Und die Erinnerung an sie würde sie mitnehmen, wenn sie endlich diesem Ort entkam. Bis dahin würde sie weiter ihrem Rat folgen, spucken und rennen. Die Arbeit erledigen, den Kopf gebeugt halten, nicht auffallen. Spucken und rennen.

Unter der kratzigen Decke murmelte sie die Namen ihres Clans vor sich hin, Shia, Lynx, Dirie, Zyda, Uluna, bis sie einschlief, träumte sie, Shia, Lynx, Dirie, Zyda, Uluna, bis am Morgen die Sirenen schrillten, alle auf die Füße rissen. In die Tage nahm sie sie nicht mit.

Sie formten den Stahl zu unzerreißbaren Ketten, zu Stangen für Käfige, die sich nicht brechen ließen. Am schlimmsten waren die Klingen. Die tödlichen Schneiden und Speerspitzen, stark genug, jeden Schuppenpanzer zu durchdringen. In eine davon hatte sich die alte Vida gestürzt, als sie nicht länger rennen konnte. Ich werde selbst über meinen letzten Weg bestimmen, hatte sie an jenem Morgen unter den kreischenden Sirenen gesagt. Sie hatte erst begriffen, als Vida ihr das Versprechen abnahm, sie nie zu vergessen.Wünsche waren gefährlich. Wünsche weckten Sehnsüchte. Trotzdem hatte sie sich gewünscht zu wissen, wie sie Vida hätte aufhalten können. Wünschte sich, sie hätte mehr als die Erinnerung an ihrer Seite, während sie die Öfen fütterte, die Hitze von Flammen spürte, die nicht von innen kamen.

An diesem Ort hatte sie keinen Namen. Sie hatte ihn weder denen verraten, die sie gefangen genommen hatten, noch den Aufsehern, die sie tagsüber zur Arbeit antrieben und deren Geschrei erst verstummte, wenn nachts die schweren Stahltüren hinter ihnen ins Schloss krachten. Nicht einmal Vida hatte sie ihn anvertraut. Ihr Name blieb sicher aufgehoben in ihrem Clan. Sie würden ihn bewahren. Und ihn ihr zurückgeben, wenn sie kamen, um sie zu befreien.
Shia, Lynx, Dirie, Zyda, Uluna.
Spucken und rennen.

 

Sie sagten ihren Namen jeden Tag. Sie riefen ihn jede Nacht den Sternen zu, wenn sie sich dem Wind entgegenwarfen. Ihre Flügel fingen das Rauschen ein, die Luft strich an ihren Körpern entlang, trug sie weiter und immer weiter. Sie wussten längst nicht mehr, wie fern sie ihrer Heimat waren.
Sie riefen ihren Namen. Sie zählten die Tage und Nächte.
Dreihundertsiebenunddreißig. Und noch einer. Und noch eine.
Sie spuckten ihr Feuer in die Dunkelheit. Ihre Rufe schnitten tiefer in die Nacht als ihre Flammen, eilten ihnen voraus.
„Heute finden wir sie“, sagten sie vor jedem Aufbruch.
„Morgen werden wir sie finden“, sagten sie, wenn sie mit müden Stimmen und Flügeln ihre Suche unterbrechen mussten. Die Hoffnung trieb sie an, hielt sie zusammen.
Ylixanna, hallten ihre Rufe zwischen den Sternen.