Phantastischer Montag: Vielleicht

Elyf öffnete die Tür.

Der erste Blick hinein war eine Enttäuschung. Nur wenige Schritte hinter der Tür versperrte ein schwerer schwarzer Vorhang die Sicht. Obwohl eben noch den zwei eng umschlungenen Gestalten Licht und Gelächter gefolgt waren, als sie die Bar verließen. Jetzt lag da nichts als Dunkelheit. Elyf zögerte.

Vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet. Vielleicht war sie noch immer zu Hause, eingesperrt für die Nacht. Vielleicht lag sie in ihrem Bett — oder versteckte sich darunter — oder hatte sich in ihren Schrank verkrochen. Vielleicht hatte sie ihren Ausbruch nur geträumt.

Vielleicht hatte sie wie immer die Augen so fest zusammengekniffen, bis sie Dinge sah, die nicht da waren. Eine Krähe zum Beispiel. Auf dem Fensterbrett. Als sie den Vorhang beiseite geschoben hatte, weil da dieses klack-klack-klack war, unaufhörlich tönte.

Und da war die Krähe gewesen, außen an ihrem Fenster, und hatte gegen ihre Scheibe gepickt.

Oder eben auch nicht. Denn sie bildete sich Dinge ein. Sagten ihre Eltern. Dinge, die nicht da waren. Dinge, die nicht sein durften.

Vielleicht hatte sie sich auch Tante Käthe mit ihrem Kräuterladen eingebildet. Vielleicht war sie nie dort gewesen sondern immer nur hier in ihrem Zimmer, in der Dunkelheit. Vielleicht hatte Tante Käthe nie zu ihr gesagt: Wenn du nicht weiter weißt, folge einer Krähe.

Denn wer sagte so etwas schon. Und wer tat so etwas, einer Krähe folgen.

Vielleicht hatte sie sich also die Krähe eingebildet, war der eingebildeten Krähe nur in Gedanken durch die Stadt gefolgt, denn wer folgte schon einer Krähe, welche Krähe wartete schon höflich, bis ein Mensch ihr auf Dächer hinterherkletterte und über Abgründe zwischen Häusern hinterhersprang.

Vielleicht lag sie also in ihrem Bett und die Fensterscheibe in ihrem Zimmer war nicht gesprungen, nicht zerschlagen, die Haut an ihren Händen nicht aufgerissen, die Krähe ihr nicht vorangeflogen und sie ihr nicht hinterhergeklettert und -gesprungen und -gerannt.

Vielleicht war dieser Luftzug an ihrem Rücken nur einer, der durch die Ritzen neben den Fenstern kroch. Vielleicht schlief sie und träumte. Vielleicht träumte sie und war wach.

Vielleicht

Mach die Tür hinter dir zu, wenn du reinkommen willst“, ertönte eine Stimme vor ihr.

Elyf zog die Tür zu.

Klack. Sie fiel ins Schloss.

Klack. Ein Licht schien vor ihr auf.

In dem Lichtkegel saß eine Frau auf einem Barhocker. Sie saß vor dem schweren schwarzen Vorhang. Haare wie Federn fielen ihr bis auf die Schultern, flossen darüber und verschwanden dahinter.

Klack. Klack. Klack, tappte sie mit einem grau lackierten Fingernagel auf das Holz des Barhockers. „Was willst du hier?“

Wenn sie sprach, tanzten tintenschwarze Federn auf ihren Wangen, auf jeder Seite eine, tief in die Haut geprägt.

Elyf starrte in das Licht, starrte auf die Frau, starrte, während ihre Gedanken sich übereinanderschoben, die Worte sich verhaspelten, bis kein einziges mehr einen Sinn ergab.

Klack. Klack. Klack. „Du bist mir hierher gefolgt. Jemand hat dich also erkannt. Sag einfach, was du willst, und ich lasse dich herein.“ Das Klacken unterlegte ihre Worte und setzte sich in der Stille fort.

Klack. Klack. Klack.

Vielleicht stand sie immer noch in ihrem Zimmer, am Fenster, vielleicht pickte die Krähe immer noch mit ihrem Schnabel gegen die Glasscheibe. Und wenn Elyf lange genug dort stand, würde irgendwann das erste graue Morgenlicht die Dunkelheit vertreiben. Irgendwann würde die Sonne aufgehen, irgendwann würde der Schlüssel im Türschloss quietschend und knackend gedreht, und die Nacht wäre vorbei.

Klack. Klack. Klack.

Die Krähe flöge fort.

Klack. Kla-

Ich will nie wieder zurück!“

Das lässt sich einrichten“, sagte die Krähe.

Wie flatternde Flügel schwang der Vorhang zu beiden Seiten auf. Gesprächsfetzen, Gelächter, Gesang, Gläserklirren schwappten Elyf entgegen. Der Raum war weit und lag unter der Decke eines hellen Sommerabendhimmels. Links von ihr streckte sich ein langer Tresen, streckte sich und streckte sich und Elyf konnte sein Ende nicht erspähen. Ihre nackten Füße sanken sanft in warmen, weichen Sand. Musik umspülte sie wie leichte Wellen, getragen von Stimmen, rau und nah und fern und vertraut.

Sie wusste, wo sie war, ohne jemals zuvor hier gewesen zu sein.

Manche tanzten, manche gestikulierten und redeten, manche lachten, manche sahen sich still lächelnd um, manche hüpften in Krähengestalt über den Sand, manche flogen auf, wirbelten herum, schneller und wilder und schneller, bis ihre Gestalt verschwamm, bis ihr Flügelschlagen stoppte und sie taumelnd und lachend in einem Wirbel langer dunkler Federhaare zum Stehen kamen, die Arme wie zur Balance weit ausgestreckt.

Komm.“ Die Krähenfrau, die am Eingang auf sie gewartet hatte, nahm sie bei der Hand. Elyf folgte ihr, wie sie ihr schon durch die ganze Stadt gefolgt war.

Sie blieben erst vor einem hohen, pyramidenförmigen Zelt stehen.

Wellen liefen über den Strand, leckten an Elyfs Zehen, liefen langsam zurück ins Meer. Aus dem Zelt drang ein leises Klack-klack-klack.

Die Krähenfrau hielt sie an einer Schulter fest. „Letzte Möglichkeit umzukehren“, sagte sie so leise, dass das Rauschen der Wellen sie fast übertönte. „Du kannst eine von uns sein. Oder du schließt die Augen, und ich bringe dich zurück.“

Klack. Klack. Klack.

Elyf bohrte die Zehen in den feuchten Sand. Das Wasser floss kühl-warm über ihre Fußrücken, kitzelte ihre Knöchel. Die Salz-getränkte Luft strich über ihre Wangen, prickelte an ihren aufgeschürften Händen. Haare wie Federn streiften ihre Arme. Sie blinzelte nicht einmal. Sie schloss ihre Augen nicht. Sie schlug die Zeltwände zurück und trat hinein. Der Duft getrockneter Kräuter küsste sie auf die Wangen, legte sich um ihre Schultern.

Endlich“, begrüßte sie Tante Käthe. „Ich habe fast schon befürchtet, wir hätten dich verloren. Setz dich.“ Sie klopfte neben sich auf den Boden.

Elyf ließ sich an ihrer Seite nieder. Vor Tante Käthe stand ein Glasbehälter mit dunkler Tinte. Daran lehnte ein Holzstab mit einer scharf abgeknickten Spitze. Tante Käthe schloss eine Hand um einen glatten, runden Stein. „Du gehörst schon jetzt zu den Krähen“, sagte sie. „Du hast bei uns deinen Platz, solange du bleiben willst.“

Für immer, wollte Elyf antworten, doch Tante Käthe hob ihre freie Hand, bedeutete ihr noch kurz zu schweigen und zuzuhören. „Wenn du auch deine Krähengestalt und deine Flügel möchtest, musst du deine Zeichnung annehmen.“ Sie tippte auf den Holzstab.

Elyf dachte an die wirbelnden Gestalten, dachte an die Krähe, die ihr vorausgeflogen war, dachte an die Dunkelheit in ihrem Zimmer. Ihre Antwort stand längst fest und sie gab sie mit leichter Stimme.

Klack. Klack. Klack. Mit jedem Tropfen Farbe, der unter ihre Haut floss, spürte Elyf ihre Federn wachsen, hörte immer lauter das Rauschen des Windes unter ihren Flügeln.

(Das war die versprochene Fortsetzung zur Geschichte Tante Krähe aus dem letzten Monat. Im Oktober lassen wir uns beim phantastischen Montag inspirieren von dem Song „Alison Hell“ (Annihilator) – und wieder sind dabei ganz unterschiedliche Geschichten entstanden … lest selbst bei: Carola Wolff Untergrund, C. A. Raaven Black Rabbit, Alexa Pukall Dunkel und still)