Phantastischer Montag: Eine Bitte

(2023 widmen wir uns den unterschiedlichsten Genres der Phantastik, im März ist es die Dystopie)

Ehrlich, ich gehöre nicht zu denen, die auch in der größten Katastrophe noch das Positive sehen und schon gar nicht in der Apokalypse. Ich gehöre zu denen, die dem Glück misstrauen und die immer – immer – das Haar in der Suppe finden.
Aber –
Drachen.
Sie bringen mich zu dieser Geschichte …

Ein Hallo in die Ferne –

so könnte ich wohl beginnen.
Inzwischen solltet ihr angekommen sein. Wir haben das Wissen um eure „Reise in die Ferne“ (wie ihr eure Flucht damals so euphemistisch genannt habt) über die Jahrhunderte bewahrt, von einer Generation an die nächste weitergegeben. Ich bin ja auch eine Nachfolgerin der nachgefolgten Generationen.

Bestimmt ist mit dem Lauf der Zeit einiges verloren gegangen, insbesondere in den Wilden Jahren, wie wir sie nennen. Die wirklich grausamen Zeiten, vor denen ihr geflohen seid. Was wir stets sicher verwahrt haben, ist euer Ankunftszeitpunkt und der geplante Ort. So fällt mir nun die Aufgabe zu, euch zu berichten, wie es hier weiterging.

Von den vorigen Berichten, die noch mit alter Technik geschickt wurden, sind uns nur Bruchstücke geblieben – und da die Technik nicht mehr existiert, kann ich nicht mehr nachvollziehen, was ihr bereits wisst. So beginne ich mit einer Zusammenfassung der Wilden Jahre:

Wie ihr vermutlich in euren eigenen Aufzeichnungen nachlesen könnt – schließlich war das der Grund für eure Flucht – haben wir als Menschheit uns viel zu spät der Klimakatastrophe in aller Konsequenz gestellt. Wenn ihr meint, bei eurem Aufbruch sah es schon übel aus, müsst ihr für das, was gefolgt ist, neue Wörter finden. Viele haben die Wilden Jahre nicht überlebt.

Von heute aus ließe sich sagen: Noch während die weltweiten Kriege tobten, holte die Natur sich zurück, was die Menschheit so lange an sich gerissen und zerstört hatte. Wer die Dürren, Überflutungen, Stürme, Kälte, Hitze und vieles mehr überlebte, musste auch mit der Einsicht fertig werden, dass Menschen diesem Planeten und allem Leben darauf (inklusive dem eigenen), Grausames angetan haben.

Heute wird die alte Geschichte der Menschheit als abschreckendes Beispiel gelehrt. Wir haben einen neuen Platz in der Ordnung der Welt gefunden und sind von dem gefährlichen Irrglauben (der so vielen Weltanschauungen innewohnte von Religionen bis zu Wirtschafts- und Herrschaftssystemen) abgekommen, dass wir über die Erde herrschen könnten oder gar sollten.

Wir sind ein Teil dieser Welt, und nur wenn es der Welt insgesamt gut geht, können auch wir gut leben. Wir haben gelernt, Konsequenzen von Handlungen vor dem Handeln zu durchdenken und unser Handeln auf das Wohl aller auszurichten. Aller, die auf dieser Welt wachsen, wandeln, fliegen, wurzeln, schwimmen, kommunizieren, einander nähren, schlicht: existieren. Dieser Wandel unserer Haltung hat vieles grundlegend verändert.

Es ist noch lange nicht alles gut, das wage ich nun wirklich nicht zu behaupten. Manches Gift längst vergangener Generationen liegt noch in der Erde, treibt in den Ozeanen und Gewässern, macht viele Gegenden weiterhin unbewohnbar und Lebendige erkranken noch immer daran. Aber wir, die, die geblieben sind und wir nachfolgenden derer, die blieben, sind schlicht zu stur, die Hoffnung aufzugeben. Hoffnung verbunden mit Taten. Denn nur so ergibt sie Sinn.

Alles und alle auf dieser Welt hängen zusammen und beeinflussen einander. Das haben auch die Menschen in den alten Systemen gewusst. Nur haben sie meistens nicht danach gehandelt. Ihr würdet eure alte Heimat heute wohl kaum wiedererkennen (wenn ich die Erzählungen aus den vorigen Zeiten bedenke). Und das begreifen wir als Fortschritt, als eine positive Entwicklung.

Wir leben auf langen Wanderungen, folgen den Jahreszeiten dorthin, wo Nahrung für uns wächst. So wie die Zugvögel, nur langsamer. Manchmal bringt uns ein Fluss schneller voran, manchmal – ja, so komme ich nun wohl zu dem, was wir die Zeit der Wunder nennen. Ohne sie gäbe es uns nicht mehr.

In der Zeit der Wunder sind die Drachen zurückgekehrt. Ja, auch sie haben hier wirklich gelebt, und das nicht nur in Märchen und Legenden! Und nun sind sie zurück. Und mit ihnen die Elfen (oder Elben, oder Feen, oder wie immer ihr sie genannt haben mögt), die Meermenschen und mit ihnen viele andere wundersame Wesen, die nur noch in Überlieferungen lebten. Sogar die Katzen sind zurück! Sie haben ihre ganz eigene Magie. Falls euch je eine begegnet, hört auf ihr Schnurren.

Sie alle kehrten zurück, als sie unseren Wandel sahen. Sie erzählen nicht viel von ihrer Zeit in der Ferne, nur dass sie auf den Rücken der Drachen zwischen den Sternen gewandert sind, voller Sehnsucht nach der alten Welt. Insbesondere die Drachen helfen bei der Heilung der Erde, ihr Feuer neutralisiert viele Gifte. Und manchmal, wenn wir ihnen auf einer unserer Wanderzüge begegnen, laden sie uns auf eine Strecke auf ihre Rücken ein. Nicht alle wagen das! Es geht dann schon sehr hoch hinauf – aber, oh, der Rausch des Fliegens! Wenn der Wind lacht, und die Flügel der Drachen knarren wie altes Leder, während wir uns an ihre festen und doch so geschmeidigen Schuppen schmiegen, diese in allen Grün- und Blautönen schillernde Welt einmal weiter überblicken, als wenn wir auf unseren eigenen Füßen stehen – dieses Gefühl ist eines der besten.

Die meisten Drachen leben mit Katzen zusammen, die es sich auf ihren breiten Rücken gemütlich machen und dafür die Drachenschuppen sauberhalten. Eine friedliche Ko-Existenz, von der wir viel gelernt haben. Ich habe das Glück, dauerhaft mit einem Drachen und ihren Katzen unterwegs zu sein. Und so bin ich die Postbotin für viele. Ich sammle Nachrichten ein und manchmal – wenn Luiraz es erlaubt – auch Menschen oder andere Lebewesen und begleite sie auf ihren Wegen von hier nach dort. Dabei ist viel Zeit für Geschichten. Manche erzähle ich, anderen lauschen wir (Luiraz, die Katzen und ich) auf unseren Himmelsreisen. Oft bringen wir auch Medizin zu denen, die sie brauchen. Nicht jede Krankheit lässt sich heilen, aber viele können wir mildern.

Von hier oben auf dem Drachenrücken kann ich sagen: Die Wälder wachsen, die Ozeane klären auf, die Luft tut den Lungen wohl, die Welt rauscht und zwitschert und schnurrt.
Alles in allem ist es ein gutes Leben.

Beste Grüße in die Ferne,
Meraz
(im Herbst des zehnten Zeitalters nach der Zeit der Wunder)

P.S.: Ich habe keine Ahnung, ob dieses Schreiben euch erreichen wird. Darüber entscheiden die Drachen.

P.P.S.: Eine Bitte – wenn ihr noch den alten Glaubenssystemen verhaftet seid, kehrt nicht zurück.

… und wenn es nicht so gewesen sein wird, dann hätte es so sein sollen.

(Die anderen Geschichten aus dem März könnt ihr hier nachlesen:
Carola Wolff: Der Wurm im System
C. A. Raaven: Hebelwirkung )