Phantastischer Montag: Das Versprechen

(Beim phantastischen Montag nehmen wir uns im November dem Genre Steampunk an. Hier ist meine Geschichte dazu.)

Seit sich die Menschheit vor 50 Jahren Drachenfeuer als Energiequelle nutzbar machen konnte, wurden fossile Brennstoffe überflüssig. Drei Drachen, die im Schichtsystem eingesetzt werden, liefern mit ihrem Feuer genug Energie, um eine ganze Stadt zu versorgen. Sie leben ewig, brauchen nicht viel Futter, einzig der viele Platz, den sie ob ihrer Größe benötigen, ist ein ernsthafter Kostenfaktor. Er wird jedoch mehr als ausgeglichen durch die pro Drache hervorgebrachte Leistung. So ist nicht nur das Problem der Endlichkeit fossiler Brennstoffe überwunden, sondern auch die fortschreitende Klimakatastrophe abgewendet.
Mena schob das Buch von sich. Dachte eigentlich niemand darüber nach, dass Drachen auch Lebewesen waren? Günstig erzeugte Energie konnte doch nicht alles sein! Sie seufzte aber nur so leise, dass ihr Seufzer in den allgemeinen Geräuschen der Klasse unterging und vor allem so leise, dass sie Herrn Wohlrath nicht übertönte, der weiter und weiter aus dem Lehrbuch vortrug. Der Trick bestand darin, seine Stimme auszublenden, ohne darüber den Moment zu verpassen, in dem er aufhörte und eine Frage stellte.
Diese Kunst hatte Mena längst perfektioniert. Sie schlug ihr Heft auf, tauchte die Feder ins Tintenfässchen. Mit schnellen Strichen vertiefte sie sich erneut in die noch unfertige Zeichnung. Selbst auf dem Papier widerstrebte es ihr, die Ketten anzuschauen, die den Drachen an seinen Platz im Dampfmaschinen-Ensemble fesselten. Schlimmer war das nur in der Realität gewesen beim obligatorischen Klassenausflug dorthin. Sobald ihr Blick auf die gezeichnete Version der Ketten fiel, hörte sie das schleifende Geräusch. Für sie war es lauter gewesen als das Brüllen der Flammen, lauter als das Zischen der Dampfmaschinen, lauter als die Stimme von Herrn Wohlrath, die sich über all den Lärm gelegt hatte, um ihnen das Wunder der ewigen Energie zu erklären.
„Und kein Mensch muss mehr in Kohleminen schuften. Ruß und Kohlenstaub in den Lungen der Menschen gehören der Vergangenheit an! Selbst die Luft, die wir heute atmen, ist reiner als noch vor wenigen Jahrzehnten. Ihr Nachgeborenen könnt euch gar nicht vorstellen, wie das hier früher aussah, besonders im Winter, wenn alle mit Kohle heizen mussten. Oft war die Luft so grau, dass man keine zwei Meter weit blicken konnte! Und das Atmen wurde zur Qual.“
Er verlor kein Wort über die Qual der Drachen. Und auch über etwas anderes nicht, wie Mena jetzt auffiel, während sie Strich um Strich die Drachenschuppen vervollständigte, versuchte den Glanz des Feuers auf ihnen einzufangen. Des Feuers, das Dampfmaschinen ebenso belebte wie die Hochöfen, in denen Metalle schmolzen. Mena stockte der Stift. Metalle schmolzen. Leise, leise legte sie den Stift neben das Heft. Blätterte die Seite um. Dann hob sie eine Hand.
„Ah, eine Frage!“ Herr Wohlrath strahlte sie an. „Mena, bitte.“
„Wie werden die Drachen gefügig gehalten? Ich meine, ihr Feuer schmilzt Metall, da dürften die Ketten allein sie doch nicht …“ Sie verstummte, als Herr Wohlraths Gesicht sich mehr und mehr verfinsterte. Sie senkte den Kopf.
„Neugier ist des Drachen Tod.“ Mehr als ein Flüstern war es nicht.
Mena schluckte und blickte vorsichtig auf. Herr Wohlrath verzog die Lippen zu einem Lächeln, bei dem es ihr schauderte. Wenige Sekunden lang fixierte er sie, dann wandte er sich abrupt um. „Wo war ich stehengeblieben? Richtig. Unsere Befreiung.“ Herr Wohlrath redete weiter, aber Mena hörte nicht länger zu. Sie krampfte die Finger um ihren Stift, beugte sie sich zu ihrer Tischnachbarin.
„Was war das denn?“, wisperte sie und wagte nicht, den Blick von Herrn Wohlraths Rücken zu lösen, der Formeln an die Tafel schrieb und weiter und weiter redete.
„Was?“, flüsterte Lore.
„Hast du ihn nicht gehört?“ Ein leises Knacken ließ sie zusammenzucken. Gleich darauf spürte sie einen spitzen Schmerz an ihrer Handfläche. „Autsch“, fluchte sie. Zu laut. Mena presste die Lippen zusammen und öffnete ihre Faust. Der Holzgriff ihres Federhalters war zerbrochen.
„Ruhe bitte!“ Herr Wohlrath drehte sich nicht einmal um. „Nehmt eure Hefte heraus und notiert euch die Aufgaben von der Tafel. Sie sollten euch den Rest der Stunde beschäftigt halten.“
Ein leises Stöhnen ging durch die Klasse. Doch es war leiser als das Rascheln von Papier und das eifrige Kratzen von Federn. Mena rieb sich die Handfläche – keine Splitter, immerhin. Sie kramte in ihrer Mappe und fand ein Stück Schnur, das sie um die gesplitterte Stelle wickelte. Der Griff war zwar viel zu kurz, aber wenigstens nicht mehr scharfkantig. Sie steckte das andere Stück davon in ihre Mappe. Vielleicht konnte sie die beiden Teile später in der Werkstatt ihrer Mutter wieder zusammenflicken. Jetzt konzentrierte sie sich besser auf die Formeln und Rechenaufgaben. Doch so sehr sie sich bemühte, dabei zu bleiben, sie blätterte schon nach wenigen Augenblicken zu ihrer Zeichnung zurück. Neugier ist des Drachen Tod.
Hatte Herr Wohlrath das wirklich gesagt oder hatte sie sich das eingebildet? Das Flüstern klang ihr noch immer deutlich in den Ohren. Aber wieso hatte Lore das nicht gehört? Mena strich mit der Feder über die gezeichneten Drachenschuppen, fügte neue hinzu. Je länger sie ihn zeichnete, desto absurder schien es ihr, dass Ketten allein irgendeinen Drachen halten sollten.

Auch als sie am Nachmittag endlich das Schulgebäude hinter sich ließ, ging ihr der Drache nicht aus dem Kopf. Die elektrische Straßenbahn rumpelte an ihr vorüber und fuhr wegen seines Feuers. Die Laternen trieben die hereinbrechende Dunkelheit zurück und leuchteten wegen seines Feuers. Gondeln der Seilbahn, die kreuz und quer über den Häuserdächern verlief, schaukelten ihre Gäste dank seines Feuers ans Ziel. Schaufenster, Läden, Theater, Lichtspielsäle, Cafés, Restaurants – alles Licht, alle Wärme, all die Betriebsamkeit, jede Werkstatt, jede Fabrik, jedes Haus, nichts davon würde ohne Drachenfeuer existieren. Aber rechtfertigte die Lebensweise der Menschen die Ausbeutung anderer Wesen?
Ein feiner Eisregen setzte ein, und Mena streifte sich die Kapuze ihres Wollmantels über den Kopf. Produziert auf einem elektrisch angetriebenen Webstuhl. Die Kälte drang langsam aber unaufhaltbar durch den Mantel. Mena zog die Schultern hoch, was weder die Kälte abhielt, noch all die Fragen aus ihrem Kopf vertrieb. Die Menschheit hatte Millionen von Jahren ohne Elektrizität gelebt. Trotzdem schien ein Leben ohne sie heute unvorstellbar. Und wie könnte sie als Einzelne über das Leben aller Menschen entscheiden?
Wie konnte sie vor der Qual eines einzelnen Wesens die Augen verschließen?

„Was ist passiert?“ Ihre Mutter lehnte sich neben ihr an die Werkbank, wo Mena den einen Teil ihres Federhalters in einer Schraubzwinge eingeklemmt hatte und gerade beide Teile an den Bruchstellen mit Knochenleim bestrich. Jetzt musste es schnell gehen. Sie setzte die Holzteile an der gesplitterten Stelle zusammen und presste sie aneinander. Sie fügten sich perfekt. Nur noch lange genug festhalten – verdammt. Sie saß hier fest.
„Ist mir zerbrochen.“ Mena schloss die Augen.
„Das sehe ich. Und wie hast du das hinbekommen?“
„Ich – ich war in Gedanken.“ Mena starrte auf die dünne Linie der Bruchstelle. Ein wenig Leim war hervorgequollen. Der würde sich später entfernen lassen. Ganz leicht. Eine Hand legte sich schwer auf ihre Schulter.
„Müssen ja heftige Gedanken gewesen sein.“
Mena biss sich auf die Unterlippe. Aber sie kam hier sowieso nicht weg, also war schweigen sinnlos. Außerdem wollten sie raus, diese Gedanken, Zweifel, Fragen. Anfangs stolperte sie noch über Wörter und Sätze, dann reihte sich alles aneinander. „Hast du den Satz schon mal gehört? Neugier ist des Drachen Tod.“
Ihre Mutter bohrte die Finger in Menas Schulter. „Wer hat das gesagt?“
„Au!“ Sie versuchte, sich von der Hand wegzudrehen, ohne dabei ihren Federhalter loszulassen.
„Mena! Das ist wichtig.“ Aber ihre Mutter lockerte ihren Griff. „Hast du das vor irgendwem anders wiederholt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Und – keine Ahnung, ob der Wohlrath das gesagt hat. Ich meine, Lore sitzt direkt neben mir und hat nix davon gehört.“ Vielleicht hatte sie sich den Satz doch eingebildet. Vielleicht drehte sie durch und hörte Stimmen, die es nicht gab. Ihre Mutter zog sich einen Hocker heran, setzte sich und legte einen Arm um ihre Schultern. Seufzte.
„Ich hab gehofft …“ Sie drückte Mena. „Nun, es ist, wie es ist. Hast du einen Drachen gezeichnet?“
„Was – wieso? Was hat das mit-“
„Also ja. Den Drachen, den ihr gesehen habt?“
Sie nickte. Ihre Hände zitterten, bis warme Finger sich um ihre legten.
„Vorsicht, sonst bricht er wieder.“ Ihre Mutter sprach leise, nah an ihrem Ohr. „Du bist nicht verrückt. Der Satz ist eine Warnung. Von den Drachen selbst. Sie warnen uns, wenn wir den falschen Menschen zu unvorsichtige Fragen stellen.“ Ihr tiefes Atemholen klang übermäßig laut in der Stille der Werkstatt. „Hör mir gut zu.“

Und sie hörte zu. Hörte all die Worte, die sie nie Menschen gegenüber aussprechen durfte, die Drachen nicht hören konnten. Sie hörte vom Plan der Drachen. Sie hörte, was sie tun musste, um ihnen zu helfen. Sie hörte, was sich alles verändern würde.
Geduld, Zeit, Verschwiegenheit.
„Wirst du das hinbekommen?“, fragte ihre Mutter. „Und bevor du antwortest – es wird lange dauern. Vielleicht dein ganzes Leben lang. Vielleicht länger.“
Mena stellte sich vor, was alles passieren konnte. Sie stellte sich Drachen vor, die nicht an den Boden gekettet waren. Drachen, die ihre Flügel streckten. Flogen.
Sie nickte. „Ich bin dabei.“ Die Worte schienen ihr zu klein für alles, was sie mit ihnen versprach.
„Gut.“ Ihre Mutter gab ihre Hände frei und deutete mit dem Kinn auf ihren Federhalter. „Ich denke, das hält jetzt.“