Phantastischer Montag: Wagnis

Andra drehte das Whiskyglas in ihren Händen. Manche Dinge hatten diese Menschen schon drauf, das musste sie zugeben. Sie nahm noch einen Schluck, genoss den rauchig-scharfen Geschmack in ihrem Mund. Fast so gut wie der nach einer ordentlichen Flamme. Sie leckte sich die Lippen und blickte in den Spiegel hinter dem Tresen. Es war immer wieder ein Schock, sich selbst in ihrer menschlichen Gestalt zu sehen. Sie schüttelte sich, vermisste dabei das Gefühl von Flügeln an ihrem Rücken, und trank noch einen Schluck.

Hoffnung zu wagen, war verrückt gewesen. Je schneller sie das einsah, desto eher könnte sie damit beginnen, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Immerhin gab es Whisky. Sie sah sich selbst zu, wie sie weitertrank, wie sie die Hand mit dem Glas langsam auf den Tresen senkte, das Glas umklammert hielt, als könnte es ihr Trost spenden, während sie allmählich in Starre versank.

Der Spiegel verriet, dass sie die einzige Gestalt in der Crow-Bar war, die stillhielt. Nur wenige Schritte hinter ihr wogte eine tanzende Masse, Hände reckten sich über Köpfe, Hüften schwangen im Beat, es war ein Wirbel aus Körpern und Lauten und so viel Freude, dass Andra sich nur noch mehr versteifte. Sie ließ die Musik, das Gewusel der Körper zu einem Hintergrundrauschen werden und obwohl sie weiterhin in den Spiegel blickte, nahm sie das Bild darin nicht länger wahr.

Dieser Ort half ihr genauso wenig dabei, die nötige Magie zu finden wie jeder andere dieser elenden Welt. Sicher, es tat gut, unter einer Art von Verwandten zu sein. Obwohl die Gestaltwandlerinnen hier Federn statt Schuppen zeigten in ihrer anderen Form. Immerhin konnten sie fliegen. Aber Drachen waren sie nun wirklich nicht. Woher auch! Andra schnaubte leise. Diese Welt war so rückständig, dass Drachen hier nur in Märchen und Legenden vorkamen. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an einen Himmel voller Drachen, an das Spiel von Flügeln und Flammen, an Rauchwirbel, die sich bis zu einem fernen Mond streckten und weiter zu den Sternen wanderten. Sie seufzte und setzte das Glas wieder an die Lippen. Blinzelte sich in die Gegenwart zurück. Zu den Krähenschwestern.

Die tanzten noch immer. Andra wandte sich vom Spiegel ab und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen. Manche der Tanzenden wandelten sich mitten in der Bewegung in ihre Krähengestalt, flogen hoch über die Köpfe der anderen hinaus, hoch und höher, drehten sich blitzschnell um, legten die Flügel eng an den Körper und schossen im Sturzflug hinab, nur um im letzten Moment, wenige Zentimeter über den lachenden Gesichtern der Tänzerinnen, die Flügel aufzuspannen, sich abzufangen und wieder in die Höhe zu gleiten.

Eine Krähe landete neben ihr auf dem Tresen und dann stand Elyf an ihrer Seite. „Was schaust du so griesgrämig?“

Andra leerte den Whisky und knallte das Glas auf den Tresen. „Eure Welt geht zugrunde, und ihr tanzt!“

Elyf grinste unbeeindruckt. „Sie geht aber nicht an unserem Tanz zugrunde.“

Darauf fiel Andra nichts ein. Die Menge vor ihnen wogte und wirbelte, Krähen schossen zwischen menschlichen Gestalten umher, streiften mal einen Arm, eine Schulter, eine Wange, aber nie stießen sie zusammen, nie stürzten sie zu Boden. Andra betrachtete das Zusammenspiel von Flug und Tanz und versuchte, sich gegen das Lächeln auf ihrem Gesicht zu wehren. Vergeblich.

Sie könnte sich mitten hineinbegeben, tanzen, alles vergessen. Hier konnte sie sich sogar in ihre Drachengestalt wandeln, vor aller Augen – was sie draußen kaum jemals wagte. Nur, wenn die Nacht wirklich dunkel war, fast so tiefdunkelblau wie ihre Schuppen und ihre Flügel, nur, wenn sie sicher sein konnte, dass kein Mensch sie beobachtete.

Zwei Krähen flogen Kreise um die Köpfe zweier Tanzender, ihre krächzenden Stimmen mischten sich unter die Musik, ein Gesang so seltsam und fremd und doch meinte Andra, den Geruch von Asche und Rauch auf der Zunge zu schmecken, während der Tanz den Boden unter ihren Füßen beben ließ und das Wispern der Flügel sie lockte und lockte.

Nein, an diesem Tanz starb keine Welt. Und so wenig es ihr auch gefiel, sie musste zugeben, dass Elyf recht hatte: Es lag eine gewisse Magie darin. Aber das musste sie ja nicht laut sagen. Andras Lächeln vertiefte sich. Es war nicht die Magie, nach der sie suchte, es war nicht die Magie, die ihr helfen würde, doch was war schon eine weitere nutzlos verbrachte Nacht?

Lass uns tanzen, kleine Krähe“, sagte sie und streckte Elyf eine Hand entgegen. Elyf lachte und packte sie mit beiden Händen, zog sie auf die Tanzfläche.

Sie ließen sich von der Musik tragen, sie stampften den Rhythmus in den Boden, sie streckten ihre Flügel und folgten den Tönen in immer größere Höhen, sanken auf dem warmen Bass wieder hinab, lachten und sangen – und Andra flog hinauf, höher als alle anderen und fügte dem Tanz ihre Flamme hinzu.

Das Licht des Feuers liebkoste ihre Gesichter, ließ ihre Flügel schimmern, fachte ihr Lachen an und ihre krächzenden Stimmen glitten über ihre Schuppen, stärkten ihr Feuer.

Vielleicht, dachte Andra, vielleicht ist es doch nicht ganz und gar verrückt zu hoffen.

 

(Unser Zitat für Februar ist von Lewis Carroll „We’re all mad here“ aus Alice in Wonderland. Die Geschichten meiner Kolleg*innen dazu findet ihr hier: Iss mich, trink mich von Carola Wolff und Umwidmung von C. A. Raaven. Am 28.02.2022 lesen wir euch die Stories wieder live auf twitch vor – um 20 Uhr geht es los!)