Phantastischer Montag: Die Sozietät und andere glitzernde Verlockungen

S P H I N X
Sozietät für phantastische Halbwesen in Notlagen
X (marks the spot)

Andra starrte das Grafitti auf dem Brückenpfeiler an. Die Schrift glitzerte silbern im Sonnenlicht. Das Glitzern hatte sie überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht. Glitzerdinge waren nun einmal unwiderstehlich – und in dieser Stadt gab es entschieden zu viele davon. Andra schüttelte den Kopf über sich selbst. Nicht das Glitzern war der Punkt, sondern die Worte. Sie war lange genug in dieser Welt, um zu wissen, dass sie hier als phantastisches Halbwesen gelten würde, wenn Menschen von ihrer Drachenseite wüssten.

Und in einer Notlage war sie ohne Zweifel. Wie ihr dieses Grafitti allerdings weiterhelfen sollte, blieb ihr ein Rätsel. Andra umrundete den Brückenpfeiler, aber mehr stand nicht darauf. Sie kehrte zu dem Grafitti zurück. Vielleicht – sie legte eine Hand auf das X. Nichts geschah. Andra lachte leise auf. „Wäre ja auch zu einfach“, murmelte sie und klopfte mit einer Faust an den Brückenpfeiler wie an eine Tür.

Auch das brachte nichts. Wer bitte ließ einen Hinweis auf eine helfende Organisation zurück, ohne eine Kontaktmöglichkeit anzugeben? Das war doch sinnfrei! Andra kniff die Augen zusammen, was natürlich auch keine neuen Erkenntnisse brachte.

Aus ihren Nachforschungen auf der Suche nach Magie hatte sie die Legenden und Erzählungen dieser Welt studiert. Sphinx – soweit sie sich erinnerte ein Wesen mit Löwenkörper und Menschenkopf, manchmal mit, manchmal ohne Flügel. Bewachte Türen und stellte Rätsel. Tötete diejenigen, die ihre Rätsel nicht lösen konnten. Nicht sehr freundlich.

Hinter ihr schnatterten ein paar Enten auf der Spree, Krähen kreuzten den Fluss und unterhielten sich lautstark. Andra drehte sich um, doch keine von ihnen war Elyf. Vermutlich war das besser so. Sie sollte Elyf nicht in ihren Schlamassel hineinziehen. Ha – Elyf würde nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen, wenn sie von ihrem Schlamassel wüsste! Weltenzerstörerin, hatten sie sie zuhause genannt. Zuhause würden sie sie nur wieder aufnehmen, wenn sie auch eine Weltenheilerin sein konnte.

Andra starrte wieder auf die glitzernde Schrift. Seit ihrer Verbannung hasste sie die Anziehungskraft, die alles Glitzernde auf sie ausübte.

 

Elyf hatte ein schlechtes Gewissen. Aber das hielt sie nicht davon ab, Andra weiter zu beobachten. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihr. Den einen Moment war ihre Drachenfreundin ausgelassen und offen, im nächsten zog sie sich zurück, geradeso als wären sie einander vollkommen fremd. Elyf hatte noch nie einem Geheimnis widerstehen können, und Andra war eines.

Also war sie ihr gefolgt. In Krähengestalt war das leicht. Bei den vielen Krähen, die sich in der Stadt herumtrieben – einige davon Krähenschwestern so wie sie, andere schlicht Vögel, die die Vorteile des Stadtlebens genossen -, konnte sie sich mühelos in der Menge verbergen.

Scheinbar ziellos lief Andra durch die Straßen, bog von den großen in die Seitengassen ab, blieb kurz stehen, als sie schließlich ans Spreeufer kam, lehnte sich mit dem Oberkörper ans Geländer. Elyf hätte sich fast von dem Sonnenglitzern auf dem Wasser ablenken lassen, den Sonnenflecken, die auf kleinen Wellen schaukelten wie winzige, aus der Nacht in den Tag gefallene Sterne. Doch als Andra schnaubte und sich vom Wasser abwandte, schüttelte sie ihre Faszination ab und folgte ihr weiter das Flussufer entlang.

Bis Andra unter dieser Brücke stoppte. Elyf landete auf einer Strebe des metallenen Unterbaus, trippelte darauf entlang, bis sie sehen konnte, was Andra so gebannt anstarrte.

S P H I N X
Sozietät für phantastische Halbwesen in Notlagen
X (marks the spot)

Elyf duckte sich auf ihrer Metallstrebe. Natürlich kannte sie die Sozietät. Aber wenn Andra Hilfe brauchte, warum vertraute sie sich dann nicht ihr an? Die Hilfe der Sozietät hatte immer einen Preis. Oh, sie forderten nie Geld, stets nur „einen kleinen Gefallen“, einzulösen bei Bedarf. Elyf schauderte. Sie hatte schon zu viele Geschichten darüber gehört, wie diese Gefallen aussahen. Diebstahl, Spionage, Entführungen, sogar Mord – nur wer wirklich verzweifelt war, wandte sich an die Sozietät.

Oder wer sie nicht kannte.

Elyf neigte den Kopf zur Seite und spähte zu Andra hinab. Sie sollte sie warnen. Allerdings würde sie dann zugeben müssen, ihr gefolgt zu sein. Nicht sehr vertrauensförderlich. Elyf rieb ihre Flügel übereinander.

 

Ich muss hier einmal kurz unterbrechen. Sie erinnern sich sicherlich noch an mich? Die Sphinx, die bei S.P.H.I.N.X Hilfe suchte – und sie auch bekam. Ich weiß, ich weiß, ich habe Sie da etwas im Ungewissen gelassen, als Sie das letzte Mal von mir gehört haben. Aber die Sozietät ist nun wirklich keine gemeine Bande von Verbrecherinnen oder gar Mördern, das kann ich so nicht stehenlassen.

Mir zum Beispiel haben sie einen ganz hervorragenden Deal angeboten: Alle, die bei der Sozietät um Hilfe ersuchen wollen, müssen nun zuerst eines meiner Rätsel lösen, bevor sie Zugang zu S.P.H.I.N.X bekommen. So filtere ich die Unwürdigen heraus und lasse die wirklich der Hilfe Würdigen durch. Ein Gewinn für alle. Nun ja – fast alle.

Entscheidend ist: Ich habe endlich wieder ein Aufgabe. Denn natürlich müssen zunächst alle elektronischen Geräte abgegeben werden. Keine technischen Hilfsmittel mehr bei der Suche nach den richtigen Antworten. Ja, Sie haben richtig gelesen: Antworten, Plural. Denn es gibt immer mehr als eine Lösung für ein Rätsel. Seien Sie kreativ! Denken Sie nach! Mehr verlange ich nicht.

Was die Sozietät dann im Gegenzug für ihre Hilfe verlangt, das geht mich nichts an. Aber Magie wird nie leichtfertig verschenkt. Das sollte allen klar sein, die hier eintreten wollen.

Das soweit von mir. Jetzt wollen Sie sicher wissen, wie es da draußen weitergeht. Ich auch, nebenbei bemerkt.

 

Andra runzelte die Stirn und hätte zu gern mit ihrem Schwanz über den Boden gewischt. Das verscheuchte immer etwas von ihrer Unruhe. Und gerade jetzt sagte ihr das Prickeln zwischen ihren Schultern, dass sie beobachtet wurde. In ihrer Drachenform wäre sie herumgewirbelt und hätte die Konfrontation gesucht. In Menschengestalt fühlte sie sich zu verwundbar.

Andra?“

Bei der vertrauten Stimme fuhr sie doch herum. Elyf grinste sie an und kam auf sie zu geschlendert.

Was machst du auf meinem Lieblingsspazierweg?“ Elyf blieb wenige Schritte vor ihr stehen.

Es dauerte ein paar Momente, bis Andra sich soweit gefasst hatte, dass sie antworten konnte. „Reiner Zufall.“ Ihre Stimme klang wackliger als ihr lieb war. Das Grafitti brannte hinter ihrem Rücken. Sie wünschte sich, sie wäre groß genug, es ganz zu verbergen. Sie wollte ganz sicher keine Fragen dazu beantworten müssen.

Ein schöner Zufall.“ Elyf kam näher. Ihr Grinsen wandelte sich zu einem Lächeln, das ihr gesamtes Gesicht überzog. Ihre dunklen Augen glitzerten.

Andra konnte den Blick nicht von ihr abwenden, konnte sich nicht rühren. Elyfs Atem strich warm über ihr Gesicht. Ihr sonnenwarmer Geruch hüllte sie ein. Ihre Lippen berührten Andras Mund, ganz leicht, Frage und Einladung. Andra stieß den leisesten aller Seufzer aus – sie hatte keine Ahnung, worauf sie sich hier einließ, aber dieser Einladung konnte sie nicht widerstehen. Sie schloss Elyf in ihre Arme und zog sie an sich.

 

Perfektes Ablenkungsmanöver, das ich muss ich den beiden lassen. Und über die Feinheiten davon, wer da jetzt wen abgelenkt hat – oder beide sich gegenseitig, darüber werde ich die nächste Zeit trefflich nachsinnen können. Immerhin. Aber auch schade, ich hatte schon das perfekte Rätsel für sie.

Nun ja, vielleicht ein anderes Mal.

So lautet unser Zitat für die Geschichten im April. Was die Kolleg*innen daraus gemacht haben, könnt ihr hier nachlesen:

Carola Wolff

C.A. Raabe