Phantastischer Montag: Das Rätsel um die verschwundenen Knochen

(2023 widmen wir uns den unterschiedlichsten Genres der Phantastik, im April ist es Paranormal Cosy Crime)

Es roch nach Geist. Milenka rümpfte die Nase und sprang von der Heizung. Lästig. Es war gerade so gemütlich gewesen – die Wärme der Heizung, das Regengeprassel über ihr am Fenster, während sie sich in Sicherheit davor wusste, in der trockenen Wärme vor sich hin schnurren konnte. Aber damit war es jetzt vorbei. Milenka dehnte und streckte sich, dann folgte sie dem Geruch nach Bittermandel und feuchtem Laub. Hoffentlich hatte der Geist genug Anstand, sich bei diesem Wetter drinnen aufzuhalten! Garantien gab es dafür in diesem alten Gemäuer nicht, in dem es durch zu viele Ritzen und Sprünge im Mauerwerk zog.

Leise maunzte und keckerte sie vor sich hin, während sie der Geruchsspur nacheilte. Es wäre so viel leichter, wenn sie die verdammten Wesen sehen könnte! Einmal – in ihren ganz jungen Jahren – war sie im Aufspür-Eifer mitten durch einen Geist hindurch gerannt. Ein ganz und gar widerliches Gefühl. Kalt-nass-schwer. Ihr hatten sich alle Haare gesträubt und sie war davon gesprungen, so schnell es nur ging.

Manche gaben immerhin ein Zeichen von sich, wenn sie ihnen nahe kam. Aber längst nicht alle. Milenka umrundete ein Tischbein, drückte sich eng an den Boden, um der Spur unter dem Ohrensessel hindurch zu folgen. Als sie vor dem Bücherregal wieder unter dem Sessel hervorkam, ertönte ein Räuspern, zu dem sie keinen Körper sah. Obwohl Milenka den Geist erwartet hatte, zuckte sie bei dem körperlosen Laut zusammen. Sie fuhr herum und starrte am Bücherregal entlang Richtung Fenster. Natürlich sah sie nichts. Aber der Geruch war hier so stark, dass sie die Nase kräuselte und ihre Schnurrhaare zitterten.

„Kannst du mich sehen?“, fragte die körperlose Stimme leise.
Milenka setzte sich abrupt auf die Hinterpfoten. Gerade noch konnte sie den Reflex unterdrücken, sich eine Vorderpfote zu lecken. Verflixte Übersprungshandlungen! Sie drückte die Vorderpfoten fester auf die Dielen. „Nein. Nur riechen.“ Hören fügte sie nicht hinzu, das war schließlich offensichtlich.

„Ah. Deswegen.“ Auch der Geist schien nicht viel von Worten zu halten. „Du starrst auf meine Knie. Ich meine, es sind hübsche Knie, wenn ich das so sagen darf, durchaus einer intensiven Betrachtung wert, ich war nur verwirrt, weil mich so lange niemand gesehen hat und dachte, vielleicht haben sich die gesellschaftlichen Regeln inzwischen geändert und …“

Milenka korrigierte stumm ihre erste Einschätzung. Der Geist war ein Plappermaul. Na herzlichen Glückwunsch. „Was machst du hier?“, fragte sie mitten den Redefluss hinein.

„Die korrekte Frage wäre: Was macht ihr hier? Ich meine, gut, du kannst nichts für das, was deine Menschen so anstellen, aber kannst du mir bitte trotzdem mal erklären, was dieses Herausreißen von Wänden soll?“

Das konnte Milenka nicht. Es war komplett sinnlos. Und der Grund, warum sie sich seit Wochen nicht mehr aus der Bibliothek heraus bewegte. Da draußen war zu viel Unruhe und Veränderung. Ihr schauderte angesichts der Vorstellung, wie viel Veränderung! Als wäre der Umzug vor ein paar Monaten nicht schlimm genug gewesen. Und jetzt, kaum dass sie sich an ihr neues Revier gewöhnt hatte, fingen ihre Menschen damit an, alles zu zerstören. Milenka schüttelte sich.

„Verstehe, verstehe“, murmelte der Geist. „Ich begreife die Lebendigen auch nicht. Entschuldige, dich meine ich damit natürlich nicht, ich will dich ja nicht beleidigen, wirklich nicht. Du hast ja keine Ahnung, wie lange ich mich nicht mehr unterhalten habe. Die meisten Lebendigen, nun sagen wir, die Lebendigen meiner Art, haben einfach keinen Sinn für Geister. Ich habe also die meiste Zeit oben auf dem Dachboden verbracht. Da lässt sich einiges beobachten, viele Löcher, durch die sich spähen lässt, wenn du verstehst. Ehrlich, ich war ganz zufrieden mit meinem Dasein.“
Milenkas Schwanz zuckte hin und her. Sie glaubte dem Geist kein Wort.

„Aber jetzt – jetzt haben sie die Wand eingerissen. DIE Wand! Verstehst du?“

Das plötzliche Schweigen verlangte eine Antwort von ihr. „Nein“, gab Milenka aufrichtig zurück.

Der Geist seufzte. „Die Wand, in der mein Skelett gesteckt hat. Das ist eine Ka-tas-tro-phe! Ich meine, ja, als ich eingemauert wurde, fand ich das alles andere als witzig, versteh mich nicht falsch – und sterben war auch kein Spaziergang. Aber das ist Jahrhunderte her. Und als Geist hier zu leben, das, nun, das ist einfach … das Beste!“

Eingemauert? Lebendig? Menschen konnten so bösartig sein. Milenka ließ ihren Schwanz von rechts nach links schnellen, hin und her, schneller und schneller. Das war eindeutig schlimmer als Wände einreißen. Was sie zurück zum Thema brachte. „Was kümmert dich dein Skelett?“ Mehr als Knochen konnten nach einigen Jahrhunderten schließlich nicht übrig sein. Milenka schnappte sich ihre Schwanzspitze, stellte eine Pfote darauf. Die Frage danach, wer da gemordet hatte, musste sie sich für später merken.

„Sie werden mich woanders hinbringen, diese Verbrecher“, jammerte der Geist. „Sie werden denken, dass so alte Knochen auf einen Friedhof gehören – oder in ein Labor, eine Forschungseinrichtung, ganz egal, sie werden mich umquartieren!“ Ein lauter Seufzer hallte durch die Bibliothek. „Ich kann doch nur dort leben, wo meine Knochen lagern. Und wenn sie die von hier fortbringen … was soll ich denn woanders?“

Das Problem konnte Milenka bestens nachvollziehen. Sicher, sie hatte mit dem erzwungenen Umzug Glück gehabt. Ja, die alte Burg war zugig – aber eben auch verwinkelt und bot noch viele unerforschte Orte (den Dachboden zum Beispiel, und das Kellergewölbe, dem hatte sie sich auch noch nicht gewidmet). Ja, ihre Menschen stellten gerade völlig absurde Dinge an und veränderten viel zu viel – aber sie ließen ihr auch die bereits gemütlich ausgebaute Bibliothek als Rückzugsort. Sogar ihr Essen brachten sie ihr hierher. Ja, der Rest der Burg verwandelte sich immer mehr in eine Baustelle – schauderlich. Milenka zuckte mit den Ohren. Aber auch das würde vorübergehen. Irgendwann (hoffentlich bald). Die Aussichten des Geistes hingegen schienen permanent schlecht. Da blieb wohl nur eines. Milenka seufzte leise. „Wie kann ich helfen?“

„Das würdest du tun?“ Die Stimme des Geistes war nur noch ein Hauch, dafür kam der Geruch von Bittermandel und feuchtem Laub immer näher. Milenka zog den Kopf zurück.

„Würde ich sonst fragen?“ Was dachte dieser Geist? Dass sie sinnlos vor sich hin plapperte? Sie musste doch sehr bitten.

„Da gäbe es tatsächlich etwas.“ In der Stimme lag jetzt eine ganz neue Nuance. Milenka richtete die Ohren nach vorn. Ja, das war Hoffnung. „Du müsstest dazu allerdings – also, ich meine, ich hoffe, das ist dir nicht unangenehm … ich meine, ich kann nichts anfassen, so ohne Körper und so …“ Der Geist räusperte sich. „Daher müsstest du – also, du müsstest meine Knochen an einen anderen Ort bringen. Heute Nacht noch. Ich habe die Lebendigen vorhin telefonieren hören. Morgen kommt jemand, um sich meine Überreste anzuschauen. Bis dahin müssten sie in Sicherheit gebracht sein. Meinst du …?“

Milenka schluckte. Aber letzten Endes waren Knochen einfach nur das: Knochen. Auch wenn sie sich gerade mit dem ehemaligen Besitzer des Skeletts unterhielt. Sie presste die linke Pfote fester auf ihre Schwanzspitze, die rechte auf die Dielen. „Wohin?“

„Das – das kann ich dir zeigen!“ Der Geist-Geruch wirbelte in einer wilden Wolke umher, unter der Milenka sich eilig duckte. „Hier, dieses Buch, in dem ist ein Plan der Burg.“

„Ich kann dich nicht sehen“, fauchte Milenka. „Schon vergessen?“
„Entschuldige – ich, also, du musst links am Regal entlang gehen, bis du zur Sektion Architektur kommst, da auf dem obersten Brett, das siebte Buch von rechts.“

Natürlich stand das Buch auf dem obersten Brett, was hieß: kurz unter der Decke. Das wiederum bedeutete eine elende Kletterei. Allerdings – Milenka blickte sich um. Ha! Da hing die Leiter. Zwar in der falschen Richtung, aber oben hinter den Büchern entlang spazieren war leichter, als am Regal hinaufzuklettern. Unter dem heftigen Protest des Geistes („Links! Nach links hab ich gesagt! Was tust du denn da?“) machte sie sich auf Richtung Leiter. So schnell sie konnte huschte sie hinauf, da endlich kapierte der Geist und die Panik-Tirade verstummte.

Milenka quetschte sich zwischen Buchkanten und Zimmerdecke hindurch, nieste angesichts des dahinter versteckten Staubs und tapste im schmalen Gang zwischen Büchern und Wand Richtung Architektur-Sektion. Immer wieder wirbelten ihre Pfoten die dicke Staubschicht auf, der Staub stob auf, kitzelte in ihrer Nase, brachte sie zum Niesen, was noch mehr Staub aufwirbelte, was wiederum … Milenkas Körper bebte unter all der Nieserei. Endlich kam sie in der Architektur an. „Sag mir, wenn ich das richtige erwische“, wie sie den Geist an und schob vorsichtig ein Buch nach dem anderen nach vorn. Die Dinger waren verdammt schwer. Milenka stemmte den Rücken gegen die Wand und die Pfoten gegen die großen Wälzer.

„Nein, nein, nein, nein, …“, tönte es in einem fort von vor dem Regal. Dann: „Halt! Stopp! Das ist es!“

Erleichtert gab Milenka dem Buch einen kräftigen Schubs, sodass es aus dem Regal fiel. Mit einem mächtigen Krachen landete es auf dem Boden. Milenka erstarrte. Lauschte. Stand ganz still da, fixierte das Buch auf den Dielen. Lauschte weiter. Nichts. Keine Schritte. Keine knarrende Tür. Dieses dicke Mauerwerk hatte wirklich einiges für sich. Niesend suchte sie sich ihren Weg zurück, verfluchte Leitern in allen Sprachen, die sie kannte (wirklich, für den Weg nach unten sollte es eine Treppe geben, das hier war einfach katzenunwürdig). Leitern, ehrlich, sowas konnten sich nur Menschen ausdenken!

Die Dielen wieder unter den Pfoten zu haben, fühlte sich gut an. Milenka flitzte zum Buch, das trotz der großen Sturzhöhe keinen Schaden genommen hatte. „Sag mir, wenn ich auf der richtigen Seite bin.“ Milenka nutzte Krallen und Zähne, um durch die unzähligen Pläne der Burg zu blättern. Wie oft konnte man so einen riesigen Kasten umbauen? Kein Wunder, dass sie noch nicht alle Winkel kannte! So oft, wie hier angebaut, eingerissen, neu geplant worden war.Natürlich sah sie das. Milenka verdrehte die Augen. War ja kein Geisterplan. Sie nickte und starrte weiter auf die Zeichnung. Faszinierend, wie viele zugemauerte Türen und Fenster es dort gab – und das dort? Milenka neigte den Kopf zur Seite, ging mit der Nase dichter an den Plan. Das sah aus wie ein Geheimgang! Sie musste definitiv das Kellergewölbe als nächstes erkunden.Die Dielen wieder unter den Pfoten zu haben, fühlte sich gut an. Milenka flitzte zum Buch, das trotz der großen Sturzhöhe keinen Schaden genommen hatte. „Sag mir, wenn ich auf der richtigen Seite bin.“ Milenka nutzte Krallen und Zähne, um durch die unzähligen Pläne der Burg zu blättern. Wie oft konnte man so einen riesigen Kasten umbauen? Kein Wunder, dass sie noch nicht alle Winkel kannte! So oft, wie hier angebaut, eingerissen, neu geplant worden war.

„Hier! Hier! Hier!“, rief es plötzlich viel zu nah an ihren Ohren. Milenka sträubte das Fell und fauchte. „Tut mir leid, tut mir leid“, beeilte sich der Geist zu versichern. „Das ist der richtige Plan. Siehst du das Kellergewölbe?“

Natürlich sah sie das. Milenka verdrehte die Augen. War ja kein Geisterplan. Sie nickte und starrte weiter auf die Zeichnung. Faszinierend, wie viele zugemauerte Türen und Fenster es dort gab – und das dort? Milenka neigte den Kopf zur Seite, ging mit der Nase dichter an den Plan. Das sah aus wie ein Geheimgang! Sie musste definitiv das Kellergewölbe als nächstes erkunden.

„Du bist an der falschen Seite des Plans“, beschwerte sich der Geist. Richtig. Es gab einen konkreten Grund, aus dem sie diese Zeichnung anschaute. Milenka wanderte um das Buch herum. War das eine Tür im Boden? Sie tippte mit einer Pfote darauf. „Genau! Dort geht es hinunter in die Krypta.“

Milenka beugte sich näher über das Papier. Schnüffelte. Aus reiner Gewohnheit. Das änderte natürlich nichts. „Da ist aber keine Krypta drunter verzeichnet.“ Außerdem war das ein Keller und keine Kirche.

„Nicht mehr. Da war mal – nun ja, zuerst waren da unterirdische Gräber, dann hat irgendwer von meinen Vorfahren, wirklich von den uralten Vorfahren, eine Kirche darüber bauen lassen, nur so ein olles Familiending. Aber den Zugang zu den Gräbern, den wollten sie erhalten, also gab es in der Kirche einen Weg nach unten.“ Das klang, als würde es länger dauern. Milenka rollte sich neben dem Buch zusammen. „Eine spätere Vorfahrin, also einige Generationen und so später, hatte dann – wie soll ich sagen? Eine Fehde mit der Kirche? Die wollten sie nicht, also wollte sie die Kirche nicht, also rief sie eines Nachts ihre Schwestern zusammen und gemeinsam rissen sie die Kirche ab. Kein Stein blieb auf dem anderen. Hach“, der Geist seufzte schwelgerisch, „es war wunderbar.“

Milenka blinzelte. Klang ganz so, als wäre dieser Geist dabei gewesen. Eine der Schwestern vielleicht? Aber was waren das überhaupt für Schwestern? Milenka legte den Kopf wieder auf ihren ausgestreckten Vorderpfoten ab. Nur nicht zu viel Neugier verraten. Da waren Geister eigen. Gehörte vielleicht dazu, wenn alles Körperliche verlorenging und nur noch die Erinnerung an die eigene Geschichte blieb. Milenka schloss die Augen. Zuhören, nicht einschlafen, befahl sie sich.

„Die Erde lag wieder unberührt da, unbefleckt von Kreuzen.“ Es klang, als hätte der Geist bei dem letzten Wort am liebsten ausgespuckt. „Natürlich blieb das nicht unbemerkt und diese fantastische Nacht hatte dramatische Folgen – aber nun ja, das tut jetzt hier nichts zur Sache. Immerhin war es den Schwestern gelungen, die Erde so zu schützen, dass keine Kirche mehr darauf gebaut werden konnte. Irgendwer hat dann in späteren Jahrhunderten die Kellergewölbe der Burg erweitert. Und da ist heute noch immer diese Fläche pure Erde, auf der nichts hält, auch kein Fußboden, woraus auch immer der bestehen mag. Diesen blanken Flecken Boden musst du finden. Wenn du die Erde an der Stelle, die auf der Karte verzeichnet ist, aufgräbst, findest du den Eingang zu den Gräbern. Dorthin musst du meine Knochen bringen – und dann den Eingang wieder mit der Erde bedecken. Dann sollten sie sicher sein.“ Der Geist verstummte.

Milenka leckte über ihre Vorderpfoten und ging das Gehörte noch einmal durch. Klang ganz so, als hätte sie jede Menge Arbeit vor sich heute Nacht. Sie rappelte sich auf, streckte und dehnte sich. Das Wichtigste zuerst: Sie schloss das Buch und schob es unter einiger Anstrengung zum Regal. Zum Glück passte es in die Lücke zwischen unterstem Regalbrett und Boden. Da schaute nie irgendwer hin. Und falls den Menschen die Lücke in der obersten Buchreihe auffiel, würden sie zwar sie beschuldigen, aber das Buch trotzdem nicht finden. Jetzt musste sie nur noch warten, bis alle ins Bett gegangen waren. Der Geist hatte keinen Sinn für Geduld, murmelte vor sich hin, ging der Geruchbewegung nach vor dem Regal auf und ab. Das brachte den Abend auch nicht schneller herbei.

Als ihre Menschen das Essen brachten, lag Milenka lang ausgestreckt auf dem Heizkörper unter dem Fenster. Draußen regnete es noch immer. Sie öffnete nur ein Auge, betrachtete die Menschen kurz, schloss das Auge wieder.

„Jetzt schau dir das an – so ein Leben müsste man haben“, sagte Mensch eins (rücksichtsvoll leise).

Mensch zwei seufzte. „Ich freue mich schon auf ruhigere Tage, wenn wir uns ihr hier anschließen können.“

Ha, die hatten ja keine Ahnung! Milenka spürte, wie ihre Schnurrhaare zuckten und streckte sich noch ein klein wenig länger aus. Ah, das tat gut. Sie musste sich schließlich gut ausruhen für die anstehenden Mühen der Nacht. Ihre Menschen blieben noch eine Weile (in stummer Bewunderung ihrer Gestalt zweifellos), dann zogen sie behutsam die Tür hinter sich zu. Den Geist hatten sie natürlich nicht bemerkt.

Ihr Zeitgespür weckte sie zuverlässig, als es dunkel geworden war. Nun gut, vielleicht war es auch der Geist, der laut „wach auf, wach auf, wach auf!“, rief.

„Ich bin ja wach.“ Milenka streckte sich, sprang leichtfüßig von der Heizung. „Also gut, zeig mir den Weg zu deinen Knochen.“

„Ich dachte, du kannst mich nicht sehen?“

„Aber riechen.“ Milenka gähnte. Streckte noch einmal den ganzen Körper durch, bis alle ihre Sinne munter waren.

„Riechen? Ich rieche nicht!“ Der Geist klang empört.

Was mussten die alle so empfindlich sein? „Frag mich nicht warum, aber ihr riecht alle nach einer Mischung aus Bittermandel und feuchtem Laub. Und jetzt lass uns gehen, bevor die Nacht vorbei ist.“ Sie rannte zur Tür, sprang die Klinke an, sodass die Tür leicht aufschwang und sie sich durch den Spalt hinaus auf den Flur drücken konnte. Der Geist war ihr offenbar vorausgeeilt. Und ganz offenbar vertraute er ihrem Geruchssinn nicht, denn er redete ununterbrochen vor sich hin, sagte jede Ecke an, um die er bog, jede Tür, durch die er glitt. Milenka schwieg und folgte.

Sie wusste schon, warum sie die Bibliothek nicht mehr verließ. Je näher sie der Baustelle kamen, desto mehr Schutt lag herum, desto trügerischer wurde der Boden unter ihren Pfoten. Plastikfolien hingen in Durchgängen, raschelten im ewigen Luftzug auf den Fluren. Milenka musste sich sehr zusammenreißen, damit sie nicht jedes Mal hochsprang. Nicht, dass sie das laut sagen würde, aber die Stimme des Geistes half ihr dabei, die anderen Geräusche zu ignorieren.

Die eingerissene Wand fand sich zum Glück im Erdgeschoss und nicht allzu weit entfernt vom Eingang ins Kellergewölbe. Die Knochen lagen in dem schmalen Raum zwischen zwei Mauern. Die hintere war noch intakt, die vordere zeigte ein gewaltiges Loch. Milenka stieg über Schutt und Steine, sprang in den Zwischenraum.

„Ich kann gar nicht hinschauen“, klagte der Geist.

Dann tu’s halt nicht, verkniff sich Milenka und näherte sich vorsichtig den am Boden liegenden Knochen. Verflucht viele davon hatte so ein menschliches Skelett, stellte sie fest. „Dir ist schon klar, dass ich die nicht alle auf einmal in den Keller tragen kann?“, erkundigte sie sich.

„Du kannst mich doch nicht auseinanderreißen!“

Milenka senkte den Kopf. Worauf hatte sie sich bloß eingelassen? Sie starrte die Knochen mit zusammengekniffenen Augen an. „Hast du ernsthaft gedacht, ich könnte die alle auf einmal in den Keller tragen? Hast du mich mal angesehen?“, knurrte sie den Geist an.

„Ich – nun – ich weiß nicht, jedenfalls habe ich mir das so nicht vorgestellt. Auf dich mag ich ja körperlos wirken, aber ich mag meine Geistgestalt intakt und dafür muss mein Skelett zusammenbleiben.“

„Das hättest du von Anfang an sagen müssen.“ Milenka schlich um den Knochenhaufen herum. Wie bitte sollte sie das bewerkstelligen?

„Hättest du dich dann darauf eingelassen?“

Milenka setzte sich abrupt auf ihre Hinterpfoten. Hätte sie? Aber nun hatte sie und ungelöste Aufgaben verursachten ihr auf Dauer nur Kopfschmerzen, also musste sie sich etwas einfallen lassen. „Wir brauchen ein Stück Stoff“, erklärte sie schließlich. Und sie wusste schon genau, wo sie das finden konnte. Nie zuvor hatte sie den Weg in die Küche so schnell zurückgelegt. Vor dem Fenster neben der Spüle hing das Gewünschte: eine helle Gardine. Wer brauchte das schon vor einem Küchenfenster?

Mit einem Sprung landete Milenka auf der Arbeitsfläche neben der Spüle. Mit einem weiteren hing sie in der Gardine, schwang daran hin und her, riss und ruckelte, bis das Ding sich endlich von der Stange löste, ritsch-ratsch-krach mit ihr hinabfiel. Milenka hatte nicht bedacht, dass der Stoff sich um sie wickeln und im Fallen behindern würde. Beinahe wäre sie auf dem Rücken statt auf den Pfoten gelandet – was für ein gemeingefährliches Zeugs so ein Stoff doch war! Sie schüttelte ihn ab, prüfte hektisch, ob bei ihr noch alles so war, wie es sein sollte. Das fehlte noch, dass sie jetzt zum Geist wurde. Milenka schauderte. Kurz betrachtete sie die Scherben, die zuvor nicht da gewesen waren. Nun, das ließ sich jetzt auch nicht mehr ändern. Milenka packte ein Ende des Stoffs mit den Zähnen und eilte zurück zum Loch in der Wand. Den Stoff legte sie davor auf den Boden, bevor sie wieder hinein zu den Knochen sprang.

Es war eine mühsame Arbeit, einen Knochen nach dem anderen zum Stoff zu tragen. Und die ganze Zeit über wimmerte und jammerte der Geist, während sie Knochen für Knochen aus dem schmalen Zwischenraum hinaus brachte. Er schien jeden Zentimeter zu spüren, den sie sich voneinander entfernten. Milenka drückte die Ohren flach an den Kopf und arbeitete so schnell sie nur konnte. Das letzte leise Wimmern verstummte, als sie auch das letzte Knöchelchen auf dem Stoff ablegte.

Milenka hockte sich auf eine freie Stelle der erjagten Gardine. Erst in der Stille wurde ihr bewusst, was der Geist die ganze Zeit über gejammert hatte. Ich habe es den Schwestern versprochen. Ich habe es den Schwestern versprochen. Interessant. Sie sprang auf. Sorgfältig hüllte sie den Stoff um die Knochen, legte die Ecken so eng zusammen, dass keine Lücken mehr blieben und sie das entstandene Stoffknäuel zwischen die Zähne klemmen konnte. Hochheben konnte sie den Stoffknochenbeutel nicht. Also schleifte sie ihn über den Boden neben sich her. Der Geist – von keinerlei Last beschwert – eilte ihr voraus, kontrollierte die Flure und Zimmer, die sie durchqueren mussten. Sein Bericht lautete immer gleich: alles leer und sicher.

Das hätte sie ihm auch sagen können. Ihre Menschen schliefen am anderen Ende der Burg, im zweiten Stock. Die hörten nichts von dem, was hier passierte – selbst wenn sie aufwachten und ins Bad gingen, würden sie nichts hören. Aber Milenka musste den Stoff mit den Zähnen festhalten, also konnte sie nichts sagen und ließ den Geist tun, was er offenbar tun musste.

Endlich standen sie vor der Tür zum Kellergewölbe. Die natürlich zu war. Sorgsam legte Milenka den Beutel ab, fuhr sich rasch mit der Zunge über Gaumen und Zähne. Gardine schmeckte wirklich nicht. Sie versuchte den Trick mit der Klinke. Aber wie sie befürchtet hatte, war die Tür verschlossen. Durch diesen Eingang kam wohl nur ein Geist ins Kellergewölbe. „Ideen?“, fragte sie ihre unsichtbare Begleitung.

„Ich schau mich um“, sagte der Geist und gleich darauf konnte Milenka ihn nicht mehr riechen. Sie schob den Stoffknochenbeutel bis an die Tür und streckte sich davor auf dem Boden aus, behielt den langen Flur im Blick. Vor den sonderbaren Einfällen von Menschen war eine nie sicher. Manchmal trieben sie sich mitten in der Nacht in der Burg herum und erschreckten eine Katze auf ihrer üblichen Nachtrunde halb zu Tode. Milenka spannte alle Muskeln an und spitzte die Ohren. Nichts.

Nichts.

Und wieder nichts.

Nur der Geruch von Bittermandel und feuchtem Laub kehrte zurück. Sie entspannte sich eilig. Schließlich wollte sie den Geist nicht noch nervöser machen. Milenka setzte sich geschmeidig auf. „Und?“

„Da ist ein Fenster, das geht zum Burghof hinaus, und das Gitter davor ist halb weg – du müsstest nur, ähm, das Glas kaputt bekommen …“

Milenka unterdrückte einen Seufzer. Wenn es sonst nichts war. Zum Burghof gab es wenigstens eine unverschlossene Tür. In der Küche. Entschlossen packte Milenka den Stoffknochenbeutel und machte sich auf den Weg. Natürlich regnete es draußen noch immer. Sie hasste es, wenn ihr Fell nass wurde, wenn das kalte Wasser über ihre Haut rann. Außerdem sog sich der Stoff voll und wurde durch die Nässe immer schwerer. Milenka zog und zerrte ihn quer über den Hof, verließ sich auf die Stimme des Geistes, die ihr die Richtung wies.

Immerhin hatte sie Übung im Einschlagen von Fensterscheiben. Wichtige Überlebenskenntnisse für Katzen, die sich in Städten herumtrieben, so wie sie früher. Ständig lauerte die Gefahr an trockenen Orten eingeschlossen zu werden. Sie legte den Beutel neben dem Fenster ab und machte sich auf die Suche nach einem ausreichend großen Stein. So viel sie den Regen dabei auch anknurrte, er hörte nicht auf. Ganz wie früher. Milenka hasste dieses nasse Gefühl. Sie hasste, hasste, hasste es. Und sie vermisste die Heizung in der Bibliothek.

Die Kombination dieser Gefühle entfachte ihren Zorn. Voller Wut rollte sie einen großen Stein in Position. Der Schmerz in ihren Pfoten steigerte die Wut nur. Knurrend und fauchend trat Milenka ein paar Schritte zurück. Sie fixierte den Stein. Sprang hoch. Schrie und rannte, hetzte auf ihn zu. Fauchend stemmte sie die Vorderpfoten auf das schlüpfrige Kopfsteinpflaster, ließ ihr Hinterteil herumschnellen, schleuderte die Hinterpfoten mit voller Wucht gegen den Stein. Der hob ab, flog zielgenau auf die Fensterscheibe zu, die unter seinem Aufprall klirrend zerplatzte.

Na bitte. Gelernt war gelernt. Milenka leckte beruhigend über ihre schmerzenden Hinterpfoten. Dann schlenderte sie auf das eingeschlagene Fenster zu. Vorsichtig trat sie noch ein paar verbliebene, spitze Scherbenreste aus dem unteren Fensterrahmen. Obwohl sie es eilig hatte, ins Trockene zu kommen, spähte sie erst einmal hinein. Kurz unter dem Fenster stand ein großes Fass. Jetzt gab es kein Zögern mehr.

„Du kannst ganz schön Furcht einflößend sein, weißt du das?“, ertönte die Stimme des Geistes neben ihr. „Hätte ich dir gar nicht zugetraut, du wirkst immer so …“

„Wie eine zahme Hauskatze?“, ergänzte Milenka die Worte, die der Geist sich wohl nicht auszusprechen traute. Sie schnappte sich den Beutel mit den Knochen und hievte ihn durch das kaputte Fenster auf das Fass, sprang hinterher. Endlich im Trockenen! Sie schüttelte sich ausgiebig. „Warum hast du mich dann um Hilfe gebeten?“

„Du bist seit Jahrhunderten die erste, die mich wahrnehmen kann.“

Richtig. Hatte sie kurzfristig vergessen. „Nur weil ich jetzt mein ruhiges Dasein genieße, heißt das nicht, dass ich ein verwöhntes, nutzloses Hauskätzchen bin.“ Milenka rümpfte die Nase. Dass sie sich nach ihrem Platz auf der Heizung sehnte, musste sie dem Geist ja nicht verraten. „Jetzt verrat mir, wo ich dieses Fleckchen unberührte Erde finde.“ Sie packte den Beutel erneut, schwor sich, in diesem Leben nie wieder Stoff in den Mund zu nehmen und sprang zu Boden.

Natürlich war das Kellergewölbe riesig – und das Fenster maximal weit von der gesuchten Stelle entfernt. Milenka zitterte vor Erschöpfung, als sie endlich dort ankamen. Aber ausruhen konnte sie sich noch immer nicht. Erst musste sie die Erde zur Seite scharren, dann den verfluchten Hebel umlegen, der natürlich klemmte und rostig quietschte, als sie ihn bewegt bekam. Der Mechanismus, der daraufhin die Tür im Boden öffnete, funktionierte hingegen tadellos. Ihre Mühen waren aber lange nicht vorbei. Sie musste den Stoffknochenbeutel eine steile Treppe hinunter zerren und einen muffigen Gang entlang schleppen. Still dankte sie allen Göttinnen für die Nachtsicht.

Der Geist trieb sie weiter und weiter, kreuz und quer durch die alten Stollen. Die Gräber steckten hinter Türen in den Wänden und Milenka fragte sich, wie verflucht hoch drei sie eine von denen aufbekommen sollten (falls der Geist sich je für eines der Gräber entscheiden würde), als sie wieder um eine Ecke bog und abrupt stehen blieb. Hier lagen Knochen offen in Steinnischen entlang der Wände.

„Ja, genau hier“, verkündete der Geist. „Gibt es ein besseres Versteck? Ich glaube kaum. Knochen zu Knochen. Da falle ich überhaupt nicht auf. Ist das nicht genial?“

Milenka war zu erschöpft für Worte. Sie faltete den Stoff auf. Unter dem fortwährenden Geplapper des Geistes trug sie Knochen um Knochen in eine der Steinnischen. Warum hatten Menschen so viele davon? Und hatte sie sich das heute nicht schon einmal gefragt?

„… und damit nie wieder eine dieser verdammten christlichen Kirchen auf unserem Gelände errichtet werden kann, musste ein von uns zum Geist werden und fortan über die Burg wachen. Nur so wirkt der Zauber.“ Ein tiefer Seufzer glitt durch den Gang und jagte Milenka einen Schauer über den Rücken. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Knochen, den sie gerade trug, nicht fallen zu lassen. „Aber zum Geist wird nur, wer ermordet wird. Also musste eine von uns sich freiwillig bereit erklären …“

Milenka sah alles vor sich. Eine Gemeinschaft von Schwestern, die sich anblickten, stumm, zögernd, bis eine sprach, während alle anderen schwiegen. Sie stellte sich vor, wie sie die Burg betraten, wie sie sich verabschiedeten, letzte Umarmungen, Worte, letzte Blicke, während sie die Mauer errichteten, die einen davor, die eine darin. Und sanft, ganz sanft legte Milenka die Knochen einen neben den anderen.

„Ich danke dir“, sagte der Geist, als der letzte Knochen an seinem Platz lag. Milenka nickte nur. Dann packte sie den nassen, dreckigen Stofffetzen, der mal eine Gardine gewesen war, klemmte ihn zwischen die Zähne und machte sich auf den Rückweg. Sie schloss die Tür zum Burghof von außen, damit niemand auf die Idee kam, sie wäre heute Nacht unterwegs gewesen. Die Ex-Gardine vergrub sie in einem Gartenbeet. Dann stieg sie durch die Katzenklappe der Vordertür wieder ins Trockene, schlich zurück in die Bibliothek. Mit letzter Kraft sprang sie auf den warmen Heizkörper und streckte sich lang aus.

Ihre Menschen würden sich wundern, wenn sie am Morgen entdeckten, dass die Knochen verschwunden waren. Aber daran konnte sie nichts ändern. Und schließlich hatten sie es sich ausgesucht, in eine Burg mit Wächterin zu ziehen. Da mussten sie sich jetzt eben den Kopf über das Rätsel um die verschwundenen Knochen zerbrechen. Milenka streckte sich so lang aus, wie sie nur konnte. Diese wohlige Wärme hatte sie sich nach dieser Nacht wahrlich verdient. „Hoffentlich finden sie deine Knochen nie wieder“, murmelte sie noch in Richtung des Geruchs von Bittermandel und feuchtem Laub, bevor sie sich einem tiefen Schlummer überließ.

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C. A. Raaven Fallobstfall